Feuer fühle ich im Herzen

Roman von Ulrich Matthias

aus dem Esperanto übersetzt von Karl Liebermann


Vorwort zur deutschen Übersetzung

Als 23-jähriger verfasste ich im September 1989 einen kleinen Roman in Esperanto. Ich verschickte ihn an einige namhafte Esperantisten und Esperanto-Verlage und erhielt eine große Anzahl freundlicher Reaktionen. Herbert Mayer, der Leiter des damals noch ziemlich neuen Verlags Pro Esperanto, erklärte sich bereit, das Werk herauszubringen. Doch zog er vor, den ursprünglichen Titel "Inter aliuloj" (der sich, wenngleich dem Esperanto-Wort "aliuloj" die Nuance des "Andersartigen" anhaftet, am ehesten mit "Einer unter Anderen" übersetzen lässt) abzuändern in "Fajron sentas mi interne" ("Feuer fühle ich im Innern", einem Vers aus einem Gedicht Ludwig Zamenhofs).

Das Buch erschien im August 1990 und fand sogleich einen recht großen Anklang in der Esperanto-Welt. Davon zeugen auch die Rezensionen in ungefähr 10 Esperanto-Zeitschriften (u.a. Esperanto, La Gazeto, Bulgara Esperantisto, Koncize, La eta gazeto, Hungara Vivo, Esperanto in Baden-Württemberg). Auszüge erschienen in der Esperanto-Jugendzeitschrift Kontakto und in dem in Bulgarien erschienenen Lesebuch Ek al leg'. Den Autor erreichten mehrere Hundert Meinungsäußerungen aus über 20 Ländern, und der schottische Esperanto-Schriftsteller William Auld nahm den Roman in seine Liste der wichtigsten Werke aus der Esperanto-Originalliteratur ("Baza legolisto") auf. Trotzdem ist der Roman inzwischen fast in Vergessenheit geraten, und der Verkauf läuft schleppend. Die Originalausgabe auf Esperanto ist weiterhin für ca. 10 EUR im Esperanto-Buchhandel (z.B. beim Bücherdienst des Esperanto-Weltbunds) erhältlich; sie kann aber auch hier im Internet gelesen werden.

Schon bald nach Erscheinen übersetzte ich selbst einen Auszug aus dem Kapitel I ins Deutsche, um ihn unter dem Titel "Begegnung mit Erik" als Kurzgeschichte beim Wettbewerb "Jugend schreibt" einzureichen. Zusammen mit 39 weiteren Beiträgen junger Menschen wurde sie 1991 in dem Band "Jugend schreibt - eine Auswahl preisgekrönter Arbeiten aus dem Wettbewerb des Freien Deutschen Autorenverbandes" veröffentlicht. Der gelegentlich geäußerten Anregung, doch einmal den ganzen Roman ins Deutsche zu übersetzen, stand ich zunächst eher skeptisch gegenüber, da mir gerade beim Niederschreiben persönlicher Erlebnisse, auf denen vieles in dem Roman beruht, die Sprache Esperanto stets ein entlastendes Gefühl einer gewissen Distanz – oder besser: einer anderen Welt – verschafft hatte; die Übersetzung ins Deutsche wäre hingegen für mich keineswegs ein Vergnügen gewesen.

Im Dezember 2000, gut 10 Jahre nach dem Erscheinen des Romans, überraschte mich nun ein Leser des Romans, Karl Liebermann, mit der Anfrage, ob er selbst das Buch ins Deutsche übersetzen dürfe. Gerne stimmte ich ihm zu. Einen Monat später konnte ich mir das Resultat anschauen - und Herrn Liebermann zu der inhaltlich und stilistisch sehr gut gelungen Übersetzung gratulieren. Nachdem ich mir an einigen Stellen noch kleinere Korrekturen erlaubt habe, veröffentliche ich das Resultat nun mit seinem Einverständnis im Internet.

Wiesbaden, den 21.01.2001

Ulrich Matthias


 

Vorwort

von Elena Zaja

Sehr selten hat man den Mut, offen über innere Probleme der eigenen komplizierten Persönlichkeit zu sprechen, sich ehrlich auszudrücken, in sich den Menschen zu entdecken, der Liebe braucht und fähig ist zu lieben.

Der Wert der Offenheit ist schon häufiger von älteren Menschen angezweifelt worden (vielleicht aufgrund ihrer Erziehung) oder vielmehr von denen, die sich geistig alt fühlen. In den Werken von William Auld finden wir die entsprechende Antwort für solche Skeptiker:

Lau mi, en chiuj teranguloj

nin junaj homoj regi devas;

se l' kriterion ni mallevas,

ni vendas nin al homaj puloj.

(Ich meine, überall auf der Welt müssen junge Menschen uns regieren; wenn wir dies nicht beachten, verkaufen wir uns an Blutsauger.)

"Nichts ist schöner als jung zu sein ... und ... Esperanto zu sprechen", versichert Manfred, der Protagonist des Romans. "Ich hoffe, dass diese internationale Verständigung auf hohem Niveau einmal für die ganze Menschheit selbstverständlich sein wird..." Dann wird es endgültig die Möglichkeit geben, die Probleme eines Menschen, aus welchem Land er auch immer kommen mag, tiefer zu erkennen, genau so wie ich diese Erfahrung machen durfte.

Durch einen glücklichen Zufall, auf einer Esperanto-Reise durch die Bundesrepublik Deutschland, hatte ich die Gelegenheit, das Manuskript dieses Buches zu lesen, dessen Inhalt meine Aufmerksamkeit von Anfang bis zum Ende fesselte durch das bunte Spiel reicher Erlebnisse, von denen viele die eigenen Erfahrungen des Autors widerspiegeln. Gerade deswegen wirkt der Roman so natürlich und überzeugend. Die ausdrucksvollen Bilder, verstärkt durch die Eigenart eines zugespitzten, jugendlichen Weltbildes, zeigen anschaulich das Verlangen nach gegenseitiger, zärtlicher Zuneigung als Kontrast zur vorherrschenden Unempfindlichkeit und Gleichgültigkeit. "Ich glaube, dass viele andere Menschen auch nicht immer glücklich sind und dass ich vielleicht nicht der einzige Mensch bin, der niemals jemanden kannte, der ihn verstand ...", schreibt der Protagonist in seinem Artikel, der in der Schülerzeitung unter dem Titel "Einer unter Anderen" erscheint.

Granda mistero estas aliuloj

...

Mi vagas inter ili kvazau certa

pri mi, pri ili, pri la universo –

ekstere vigla kaj laushajne lerta,

dum efektive temas pri l' inverso.

...

Chu ili spertas, kiel mi, scivolon

chu ili sin komprenas reciproke?

En gloron ili trafas au izolon?

...

(Ein großes Geheimnis sind die Anderen (...) Ich bewege mich unter ihnen, als wüsste ich alles – über mich, über sie, über das Universum – nach außen munter und scheinbar gewandt, während, in der Tat, es sich umgekehrt verhält. (...) Sind sie beseelt, wie ich, von Wissensdrang? Verstehen sie sich gegenseitig? Stehen sie im Ruhmesglanz oder sind sie gar allein?) ...

Gerade dieses quälende Gefühl der Einsamkeit und das Verlangen, dennoch diese "geheimnisvollen Anderen zu verstehen" (William Auld), inspirierten den Erzähler, einfühlsam die Szenen aus dem alltäglichen Leben zu beobachten, und regten ihn an, seine verborgenen Absichten in der oben erwähnten Zeitung publik zu machen. "Ich werde nicht mehr allein sein, sondern unter Freunden", denkt er, in der Hoffnung auf tiefgreifende Änderungen in seinem Leben nach dem Erscheinen des Artikels.

Mit psychologischer Analysierfreude betrachtet der Autor Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen und führt sie auf die Ursachen einer falschen Erziehung zurück. "Nach und nach verabscheute ich jegliche psychische und physische Gewalt", so beurteilt der Held des Romans ein für allemal die Erziehung mit Hilfe von "Zuckerbrot und Peitsche": "Es ist notwendig, erlittene Grausamkeiten zu beleuchten, die heute viele Menschen genauso kritiklos betrachten wie einst den Faschismus." Die Unterstützung von Tyrannei hängt im weitesten Sinne ja zusammen mit dem Verhalten und den Erziehungsmethoden in der Familie. Befürworter des Nazismus sind nicht fähig, die Menschenrechte zu achten, auch nicht in ihrer eigenen Familie, weil sie danach streben, das Anderssein der anderen zu unterdrücken, obwohl das, wie wir aus dem Buch schließen können, nicht zum Wohl der Familie beiträgt, sondern, im Gegenteil, nur frustrierende Unzufriedenheit hervorruft (bedingt durch die Unmöglichkeit, eigene Ideen zu verwirklichen), sowie einen wirkungslosen Widerstand gegen die ernste, unbarmherzige Wirklichkeit. "Siehe Papa, das ist der Mann, den du gewünscht hast ...", lesen wir einen Satz voller Enttäuschung, als Höhepunkt eines unglücklichen Lebens. "...Ich fühle die erfrischende Wirkung der Tränen, die über meine Wangen laufen..." – "... Ja, so geheimnisvoll ist das Land der Tränen ...", schrieb Saint Exupéry in seinem Buch Der kleine Prinz. Wenn man Einsamkeit empfindet wie einen Kloß im Hals, dann scheint die Welt nicht "voller Freude zu sein ... ich sehe die Freude nicht. Um mich herum herrscht nur Dunkelheit, Leere und Schweigen..."

– Aber wo sind die Menschen? – ich erinnere mich an die Frage des kleinen Prinzen. – Man ist etwas einsam in der Wüste.

– Man ist auch einsam unter den Menschen, – folgte die Antwort.

Gewiss ist sich der Erzähler darüber im Klaren, dass es neben dieser subjektiven auch allgemeinere psychische Ursachen zwischenmenschlicher Barrieren gibt. Sitten, traditionelle Anstandsregeln und die üblichen Grenzen im Verhalten, Nachgiebigkeit oder Sturheit, Mentalität und vieles andere spielen hier ebenfalls eine Rolle: "Allmählich habe ich verstanden, dass in der Esperanto-Welt die Menschen nicht so kalt sind... Wahrscheinlich ist es in vielen Ländern so, dass sich die Menschen im allgemeinen lieber berühren, liebkosen und einander küssen als in der Bundesrepublik Deutschland..."

Nicht immer sind die "einfachen Gesten der Freundlichkeit" sinnlos. "... Wenn wir uns verabschieden... mit einem netten gegenseitigen Lächeln, bin ich schon sehr glücklich ..." – stellt der Erzähler fest. Er bemerkt: "Irgendeine magische, heimtückische Kraft zwingt mich von neuem, Gesichter zu suchen, um sie anzusehen, ihnen zuzulächeln..."

All dies zeigt uns, dass Mitleid und Mitgefühl menschlicher ist als herzloses, unverantwortliches Ignorieren, dass Frieden besser ist als Krieg und Aggressivität. Was die Verbesserung der Welt anbelangt und seinen persönlichen Beitrag dazu, denkt der Protagonist bei seinem Philosophieren über den Sinn des Lebens: "... Aber, wenn die Welt schlecht wäre, müsste ich sie ändern. Ich würde also gebraucht werden, mein Leben hätte einen Sinn, ich muss also weiterleben..."

Wenngleich das Leben im Augenblick nicht viel Freude für ihn bereithält, zeigt uns der Roman, dass auch Menschen wie er sehr glücklich sein können, denn sie besitzen (wenn auch teilweise unbewusst) in ihrem Schicksal mehr Chancen, Lebenserfahrung zu sammeln und geistig reicher zu werden: Ihre anscheinend unvermeidliche Trauer und ihre Gewöhnung an die Einsamkeit machen für sie die innere Welt des Menschen, die geistigen Eigenschaften im Vergleich zu den materiellen, physischen Werten kostbarer; auch ermöglichen sie, verstärkt Begabungen und Fähigkeiten zu entwickeln; ja nach Auffassung der Psychologen und wie zahlreiche lebende Beispiele bezeugen, begünstigen die Bedingungen des Alleinseins in hohem Maße die Entwicklung schöpferischer Fähigkeiten. Diese Gruppe von Menschen erreichen jenen besonderen Zustand der Seele, der es möglich macht, die Umwelt von außen zu betrachten, deutlicher die Schwankung und Unwiederholbarkeit eines jeden Augenblicks im Leben zu fühlen sowie den blitzschnellen Lauf der Gegenwart in der grenzenlosen, unvergänglichen Ewigkeit. Wenn diese Menschen auch manchmal mit Bedauern feststellen, dass sie nachts, anstatt zu schlafen, viel nachdenken, so ist doch bekannt, dass "die Eule der Weisheit während der Nacht ausfliegt" und eine edle, hohe Melancholie – ein integraler Bestandteil des Gleichgewichts im Leben – zur Klarheit der Gedanken und zur Offenbarung tiefer Erkenntnisse anregt. Das lässt bei uns die Hoffnung aufkeimen, dass sich der Abgrund, der sie von den anderen trennt, nicht verhängnisvoll ausweitet, sondern dass es möglich ist, dem Schicksal zum Trotz, die angstvollen Wolken mit Begeisterung und starkem Willen wegzublasen, und dass auch in ihrem Leben eines Tages die Morgendämmerung einsetzt und sie zweifellos die Chance haben, einen zauberhaften, erfreulichen Sonnenaufgang zu bewundern. Mit einem Funken Hoffnung auf Gedeihen in der Flamme des Lebens möge die Melodie der Harmonie in ihren Herzen erklingen, wo niemals das innere Feuer erlöschen soll!

Der Titel des Buches führt uns gleich zum Kern der Sache, der unsere Herzen anspricht dank der glaubwürdigen Darstellung und der schönen, frei fließenden Fantasien und mit Hilfe einer klaren und mutigen Sprache. Beeindruckend ist auch der Umfang der Themen, der besonders zu Anfang mäßig erscheinen mag, aber dank des bildhaften Ausdrucks bemerkt man, dass zwischen den Zeilen sehr viele weitere wichtige Fragen auftauchen, über die man endlos diskutieren könnte.

Dank Esperanto hat der Erzähler viele Kontakte, und mit bewundernswertem Verständnis und außerordentliches Interesse beim Leser weckend beschreibt er authentisch auch die Stimmung der verschiedenen internationalen Jugendtreffen und seine Erfahrungen mit Auslandsreisen.

Menschen, die nicht nur ferne, exotische Länder näher kennenlernen möchten, sondern auch die nahen, meist direkt nebenan liegenden geheimnisvollen Inseln der rätselhaften und einzigartigen menschlichen Seele, erwartet wirklich eine rührende, nachdenklich stimmende Reise in die wunderbare Vielfalt menschlicher Individuen.

 


 

I

Wieder eine jener endlosen Nächte. Ich kann nicht einschlafen, vielleicht will ich es auch gar nicht. Mein Herz ist gefangen von einer Traurigkeit, von einer grundlosen, leeren Traurigkeit. Ich philosophiere melancholisch und weiß nicht, ob ich nur denke, weil ich nicht einschlafen kann, oder ob ich vielleicht nicht einschlafen kann, weil ich denke.

Wahrscheinlich ist es schon 4.00 Uhr. Um 7.00 Uhr muss ich aufstehen und in die Schule gehen. Dort will ich nicht schon wieder müde sein, sondern wach und frisch, um im Unterricht besser mitmachen zu können. Meine mündlichen Noten müssen besser werden. "Manfred", sagte Herr Hausmann, mein Geschichtslehrer, "deine bisherige mündliche Note ist mangelhaft". Wahrscheinlich ist es gut, dass er das sagte, denn das kann mich anspornen, mich selbst zu ändern. Ich will nicht mehr ein ruhiger, nachdenklicher Junge sein, sondern lebhaft, witzig, beliebt bei den anderen...

Ich muss jetzt einschlafen, unbedingt. Hilft da vielleicht Fantasieren? Vor meinen Augen erscheint das Bild von Martina. Ich sehe ihre schönen blonden Haare; ich stelle sie mir vor neben mir, auf mir, unter mir. Meine Arme drücken sie an mich, meine Brust fühlt ihre Brüste, ihre Weichheit, ihre Wärme... Aber ich befinde mich nicht in der richtigen Verfassung; meine Erregung ist ihrer Schönheit nicht angemessen. Trotzdem, ich werde müde...

 

* * *

Der Wecker klingelt. Es ist schon 7.00 Uhr. Noch ein paar Minuten und ich muss aufstehen. "Guten Morgen, Mama... Ja, ich stehe gleich auf..." Das Frühstück wird schnell einverleibt. Ich gehe in den Keller, hole mein Fahrrad nach oben und fahre los.

Die klare Morgenluft des Spätsommers erfrischt meinen Geist. Ich fahre entlang der Wiesen neben der Diemel nach Warburg.

Einige Minuten vor 8.00 Uhr erreiche ich die Schule, betrete das Klassenzimmer. Sofort erblicke ich Martina. "Guten Morgen!", sage ich zu ihr. – "Guten Morgen!", antwortet sie. Etwas ängstlich wirkt sie, denke ich, indem ich noch einen Moment meinen Blick auf ihre Augen richte. Gerade wegen dieser Ängstlichkeit bezaubert sie mich so sehr; gerade diese Ähnlichkeit zwischen uns macht sie mir so sympathisch. Kurz begrüße ich noch ein paar andere Klassenkameraden, dann beginnt schließlich der Unterricht.

Frau Keller, meine Deutschlehrerin, kommt herein, und jeder legt sein Buch "Die Wahlverwandtschaften" auf den Tisch. Während der kommenden zwei Stunden werden wir wieder über diesen Roman von Goethe sprechen. Ich habe ihn zwar gelesen, aber nur oberflächlich, denn ich interessiere mich nicht besonders für Probleme von Menschen, die vor 200 Jahren gelebt haben. Ich habe meine eigenen Sorgen, und ich bin immer noch müde, da ich viel zu wenig geschlafen habe. Trotzdem, ich muss mitarbeiten, mitreden...

 

* * *

 

Am Ende der zwei Stunden stelle ich fest, dass ich vom Unterricht nicht viel mitbekommen habe. Meine Gedanken beschäftigten sich zwar von Zeit zu Zeit mit dem Roman, aber öfters mit Martina und anderen Themen, die mich mehr berühren. Und leider fiel ich wieder in Schweigen. Bei Frau Keller ist das nicht schlimm; irgendwie hat sie mich gern – vermutlich, weil ich sie während des Unterrichts nie störe. Wenn auch meine nächsten Stilübungen gut sind, bekomme ich sicher wieder eine Zwei im Zeugnis. Doch wenn ich es nicht schaffe, in ihrem Unterricht lebhafter mitzumachen, werde ich es auch nicht schaffen, im Unterricht von Herrn Hausmann aktiver zu sein. Und er gibt schweigsamen Schülern keine guten Noten, denn für ihn sind die mündlichen Noten die wichtigsten...

In Gedanken über dieses Problem gehe ich in den Pausenraum, eine Halle, bestehend aus zwei breiten Korridoren, wo die Schüler die Pausen verbringen sollen, besonders – aber nicht nur – wenn es draußen regnet. Durch die Glaswände der Pausenhalle sehe ich den Schulhof, auf dem einige Schüler sich mit Fangspielen und Fußball amüsieren. Damals, vor drei, vier Jahren, verbrachte ich meine Pausen auch so. Ich spielte gerne Fussball mit einem Tennisball, wenngleich der Schweiß am Anfang der nächsten Unterrichtsstunde ein bisschen unangenehm war. Aber irgendwann hörte das auf – vielleicht, weil wir jetzt in der 11. Klasse fast schon erwachsen sind. Meine Klassenkameraden stehen nicht mehr auf so etwas; sie verbringen die Pausen auf andere Art.

Ich sehe eine kleine Gruppe von ihnen einige Meter von mir entfernt stehen, und ich gehe zu ihnen, um ein bisschen mitzuhören. Niemand bemerkt mich, keiner macht mir Platz, so dass ich mich der Gruppe anschließen könnte, anstatt außerhalb der Runde zu stehen. Ich höre einige Minuten lang zu. Sie sprechen über Motorräder und über Leute, die ich nicht kenne. Manchmal lachen sie. Ich lache ein wenig mit, obwohl ich nicht richtig verstehe, worüber sie reden. Ich sehe keine Möglichkeit, mich einzumischen, und fühle mich nicht beachtet. Ich beschließe, die Gruppe zu verlassen, und gehe ziellos in der Pausenhalle umher. Ich hasse Pausen, besonders die großen, 20-minütigen, wie jetzt. Es gibt sehr viele Schüler aus anderen Klassen, deren Gesichter ich teils schon kenne, teils auch nicht. Und schließlich erblicke ich meinen Klassenkameraden Peter mit seiner gut aussehenden Freundin. Ich beobachte sie einen Augenblick, sehe, wie sie sich umarmen und küssen. "Er darf sie berühren", denke ich, aber sofort bin ich mir darüber im Klaren, dass dieser Gedanke nicht schön ist. "Ich soll mich doch über das Glück anderer Menschen freuen!", sage ich mir. Aber mit Bedauern stelle ich fest, dass mir im Moment überhaupt nicht nach Freude zumute ist. Peter ist ein schlechter Schüler; er kam ja letztes Jahr in unsere Klasse, weil er die 11. Klasse wiederholen musste. Und er sieht wirklich nicht besser aus als ich. Nur weil er etwas gesprächiger ist.

Ich gehe ziellos weiter, schaue ringsumher. Irgendwo sitzt Martina und unterhält sich mit ihrer Freundin Veronika. "Warum nicht ich?", frage ich mich, und ich weiß, dass die Antwort auf diese Frage mich zu den Wurzeln meiner Traurigkeit führen wird.

Ich überlege. Unterhaltungen beginnen, wenn jemand eine andere Person anspricht. Wenn jemand andere Personen nicht anspricht, kann er sich trotzdem unterhalten. Zum Beispiel müsste ein Mensch, der andere überhaupt nie anspricht, genau die Hälfte der Unterhaltungen haben, die er hätte, wenn er von sich aus Gespräche beginnen würde. Und das könnte ausreichen, um sich trotzdem wohl zu fühlen. Doch aus irgend einem Grund geht diese Rechnung nicht auf. Ich muss herausfinden, warum.

Wenn jemand etwas zu sagen hat, wie wählt er die Person aus, an die er sich wendet? Sicher spielt es eine Rolle, ob die andere Person angesprochen werden will. Man geht lieber auf Menschen zu, von denen man annimmt, dass sie sich darüber freuen. Und wahrscheinlich vermuten viele, dass sich ein Mensch, der andere Menschen selbst nicht oft anspricht, nicht über Gespräche freut, also auch nicht gern angesprochen werden will. Aber doch möchte ich angesprochen werden! Es ist also notwendig, ihnen das zu sagen, damit sie ihr Bild über mich ändern...

Gespräche können oberflächlich sein oder tiefgründig. Bei letzteren spielt sicher auch das Vertrauen eine Rolle. Vertrauen entsteht durch Offenheit. Es ist also notwendig, mich zu öffnen...

Während diese Gedanken mich noch beschäftigen, kündigt ein Gongschlag das Ende der Pause an. Ich gehe ins Klassenzimmer zurück, wo der Geschichtsunterricht von Herrn Hausmann beginnt. Da ich bemerke, dass ich mich noch müde fühle und jetzt außerdem unruhig wegen der Gedanken, die in mir aufgestiegen sind, beschließe ich, meinen Plan, schon heute lebhafter am Unterricht teilzunehmen, noch zu verschieben.

Am Ende des Unterrichts, in dem ich mich also ruhig verhalten habe, beginnt eine 5-minütige Pause, welche diejenigen, die nicht hinausgehen, um eine Zigarette zu rauchen, im Klassenzimmer verbringen. Ich beobachte Martina und sehe, dass sie ihr Mathematikheft aus ihrem Ranzen holt. Ich erinnere mich, dass unsere Hausaufgaben diesmal verhältnismäßig schwierig waren. Es handelt sich um Beweise mathematischer Lehrsätze mittels Induktion. Als ich gestern Nachmittag diese Aufgaben löste, nahm ich an, oder war mir vielmehr sicher, dass keiner meiner Klassenkameraden es schaffen würde, sie zu lösen. Heute haben wir keinen Mathematikunterricht, aber morgen, und ich weiß, dass Martina, die ja nie vergisst, ihre Hausaufgaben zu machen, unbedingt auch die heutigen machen will.

Anderen Menschen zeige ich nur ungern meine Lösungen – aber ihr... Wie schön wäre es, ihre Nähe zu spüren, zu erfahren, dass sie mir zuhört, selbst wenn es sich nur um Mathematik handelt. Was für eine Freude, endlich einmal mehr Worte mit ihr zu wechseln als nur "Guten Morgen!", "Hallo!" und "Tschüss!"... Und tatsächlich, sie fragt Veronika, ob sie dieses mathematische Problem lösen kann. "Nein", antwortet Veronika und fügt hinzu: "Frage Manfred!" Ich bin freudig überrascht, werde etwas nervös und betrachte sie nun noch aufmerksamer. Ich bemerke (oder glaube zu bemerken), dass sie ein wenig rot wird, und stelle fest, dass sie es nicht einmal wagt, nach mir zu schauen. Wenn sie es tun würde, würde sie sehen, dass ich allein dastehe, also Zeit habe und mir im Augenblick nichts Schöneres vorstellen könnte, als ihr meine Hilfsbereitschaft, meinen guten Willen zu zeigen...

Kurz darauf steckt Martina ihr Heft wieder in den Ranzen und holt ihre Sachen für den nun folgenden Lateinunterricht heraus. Ich habe diesen Unterricht irgendwie gern, obwohl er langweilig ist. Aber ich freue mich immer, wenn Dr. Kramer, der den Unterricht hält, sagt: "Das ist ein Satz für dich, Manfred!" Das bedeutet, dass der Satz besonders schwierig ist und dass er nur mich für fähig hält, ihn zu übersetzen.

Im Anschluss an den Unterricht, in dem ich meine Sätze nicht viel schlechter als sonst übersetzte, ist wieder eine längere, 10-minütige Pause. Ich gehe in die Pausenhalle, und wieder langweile ich mich beim Auf- und Abgehen unter bekannten und unbekannten Schülern. Wieder sehe ich Peter mit seiner Freundin. Aber diesmal drängt sich der alte Satz etwas stärker auf als vorher: "Er darf sie berühren!"... Sie streicheln sich zärtlich und küssen sich. "Was bedeutet lieben?", frage ich mich. Lieben bedeutet: eine Person der anderen vorziehen, also andere Personen ablehnen zugunsten der einen! Bedeutet Liebe – oder allgemeiner: Freundschaft – immer Vorurteile gegen andere zu haben, die Nicht-Geliebten, die Nicht-Freunde? Das Vorurteil, dass die anderen nicht so gute Freunde wären wie die begünstigte Person? Nein, ich habe diese Gedanken nicht gern. Aber ich kann ihnen nicht aus dem Weg gehen ...

Ich gehe weiter, sehe Menschen, Gesichter, die mich nicht bemerken. Stumm ruft es in mir: "Sieh doch! ... Sieh mich an, den du nicht beachtest, mich, den Unschuldigen, den Ungeliebten...!" Aber keiner sieht her. Ich bin irgendwie erregt, nervös. Zum Glück dauert diese Pause nicht so lange. Gleich beginnt der Physikunterricht. Er ist eines meiner Lieblingsfächer...

 

* * *

 

Um 12.30 Uhr ist der Unterricht zu Ende. Ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause, entlang der Wiesen am Fluß. Allein. Ich überlege, warum ich allein fahre. Auch für die anderen aus meiner Stadt ist der Unterricht soeben zu Ende gegangen. Auch sie müssen mit dem Fahrrad durch die Wiesen fahren. Sicher fahren auch heute einige zusammen, wahrscheinlich erst einige Minuten nach mir. Warum warte ich nicht auf sie? Ich erinnere mich, dass ich gestern mit Karsten zusammen zur Schule gefahren bin, weil wir uns zufällig dort trafen, wo unsere Wege zusammenführen. Er ist sehr gesprächig. Aber doch ist es ihm nicht gelungen, viele Worte aus mir herauszulocken. Von Zeit zu Zeit einen kleinen Satz, aber meistens nur das Wort "Ja".

Hat er bemerkt, dass ich mich trotzdem über die Unterhaltung gefreut habe? Oder hält er mich einfach für einen langweiligen, uninteressanten Gesprächspartner? Wird er mich in Zukunft meiden, weil er lieber mit interessanteren Menschen spricht, so dass ich niemals lernen werde, mich lebhaft zu unterhalten? Ich muss diesem Teufelskreis entkommen.

Ich komme zu Hause an und esse mit der Familie zu Mittag. Es wird wenig gesprochen, wie üblich. Papa kritisiert, dass Mama den Rotkohl zu weich, zu matschig gekocht habe. Dirk, mein jüngster Bruder, stimmt zu und ergänzt noch, dass das Fleisch auch nicht gut sei.

Nach dem Mittagessen gehe ich in mein Zimmer und nehme gleich die letzte Nummer unserer Schülerzeitung zur Hand. Ich lese nochmals das Vorwort, in dem Rolf, der aktivste unter den Redakteuren, sich über die geringe Bereitschaft der Schüler beklagt, zum Bestehen der Zeitung beizutragen. Schon vor fast einem halben Jahr ist diese Nummer erschienen, und schon damals dachte ich, dass ich vielleicht auch über etwas schreiben könnte, was mich berührt. Aber erst jetzt haben sich meine Pläne etwas konkretisiert. Es könnte eine wirksame Möglichkeit sein, meinen Klassenkameraden mitzuteilen, was ich will, was ich ihnen sagen muss... Auf der zweiten Seite finde ich eine Angabe über die Auflagenhöhe: 500 Exemplare. Unser Gymnasium hat 900 Schüler, es liest sie also mindestens jeder Zweite.

Ich blättere weiter darin und suche eine Antwort auf eine wichtige Frage: Würde dies zum Rest der Zeitung passen? Ich sehe dumme Witze, belangloses Zeug. Aber zum Glück finde ich auch seriöse, emotionale Artikel von Ralf über Atomenergie und Abrüstung. Doch keiner spricht über sein Inneres, außer vielleicht Irene in ihrem Gedicht "Meditationen am Ufer eines Flüsschens" Aber ich will keine Verse dichten, ich will möglichst etwas direkt sagen. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass es trotz allem möglich ist, etwas darin zu veröffentlichen.

Ich lege die Zeitung aufs Regal zurück und fange an, meine Hausaufgaben zu machen. Danach gehe ich ins Wohnzimmer, um ein wenig in Zeitungen und Zeitschriften zu lesen.

Plötzlich kommt mein Vater herein.

"Brauchst Du noch dein Fahrrad?", fragt er in einem unfreundlichen Ton.

"Nein, heute nicht mehr."

"Du sollst es in den Keller stellen!"

"Nicht nötig. Das Fahrrad ist abgeschlossen."

"Stelle dein Fahrrad ein!", befiehlt er wütend.

"Warum soll ich es einstellen? Es regnet doch gar nicht."

"Ich sagte, du sollst dein Fahrrad einstellen."

"Ja, aber warum?"

"Wirst du nun dein Fahrrad einstellen?", fragt er drohend.

"Nein, es ist nicht notwendig."

 

Aber das war zuviel für ihn. Er explodiert vor Zorn, schlägt mit der flachen Hand auf meinen Hinterkopf, mit ganzer Kraft, einmal, zweimal. "Nicht so fest, Karl!", ruft meine Mutter, aber ich schreie schon, fange an, jämmerlich zu weinen, zittere am ganzen Körper, fühle eine Erschütterung im Gehirn, bemerke aber nach einem Moment, dass alles noch funktioniert. Ich kann aufstehen, mich in mein Zimmer zurückziehen, um in Ruhe weiter zu weinen. Mit einer gewissen Genugtuung bemerke ich, dass ich unverschämt weinte, obwohl Papa das "Geplärre" seiner Söhne immer sehr hasste. Sie sind schließlich ja keine Mädchen, nein, Männer sollen sie werden, Männer !

Ich bemerke die wohltuende Wirkung des Weinens und schaue mit meinen noch nassen Augen in meinem Zimmer umher. Alles sieht etwas unklar aus, aber ... es hat sich nichts geändert, alles blieb genau so wie vorher. Auf meinem Nachttisch steht noch mein liebstes Plüschtier, der kleine weiße Bär, den ich nehme und liebkose. Ich streichle sein Fell, drücke ihn an meine Wange. Er war mein Weihnachtsgeschenk, als ich fünf Jahre alt war.

Ich fühle mich müde und gehe daher ins Bett. Nach einiger Zeit kommt Mama. "Oh, schon im Bett?", fragt sie und fügt mit milder, mitleidiger Stimme hinzu: "Du darfst doch deinem Vater nicht immer so trotzen!" Aber ich tue so, als ob ich sie nicht bemerke. Ich bin ja kein Kind mehr.

 

Ich bin schnell eingeschlafen.

 

* * *

 

Am Tag darauf beschäftigen mich etwas andere Gedanken, als am Tag zuvor. Ich fühle mich wohl, bemerke aber, dass ich doch nicht in der Lage bin, mich so zu ändern, dass ich nach außen hin lebhafter, gesprächiger werde. Schon früher dachte ich, dass vielleicht meine Erziehung mich hat ängstlich werden lassen, nun bin ich mir dessen sicher. Die Tatsache, dass Aussagen von mir bei meinem Vater Zorn hervorrufen können, machte mich schweigsam. Ich fürchte meinen Vater sogar irgendwie, und um wieviel mehr also die weniger bekannten Menschen, die Lehrer und auch die Klassenkameraden...

An diesem Tag gehe ich früh zu Bett, aber diesmal kann ich wieder nicht einschlafen. Zu lebhaft sind die Gedanken, zu stark der Wunsch, mein Schicksal zu erforschen und zu klären.

Ich denke an meinen Vater. Schon von Anfang an fürchtete ich ihn, denn er schimpfte, drohte... und verlor, zwar nicht sehr oft, doch immerhin ein- oder zweimal im Jahr, völlig die Selbstbeherrschung, wurde regelrecht trunken vor Zorn. Ich erinnere mich, dass es vor einigen Jahren schon einmal eine solche Situation gab wie gestern, und mich erschreckte die grausame Ungerechtigkeit, die ich erfahren habe. Ich wollte nicht mehr in so einer Welt leben, ich wollte mich umbringen. Nur, habe ich überlegt, dass ich dann nie mehr der Welt sagen könnte, was ich gelitten habe, während, wenn ich weiterlebe, ich erzählen, darüber schreiben, helfen könnte, die Welt zu ändern, die ich so herzlos, ungerecht und grausam empfand. Die Erde, wie sie Gott vielleicht schuf, oder besser, wie ich sie finde, würde den Menschen alles geben, um glücklich zu werden, wenn sie einander gut behandeln würden.

Doch dazu ist Papa nicht fähig, denn er erfuhr selbst eine grausame Erziehung! Ich erinnere mich, dass er oft sagte, wenn seine Kinder nicht gehorchten: "Wenn ich das zu meinem Vater gesagt hätte, hätte ich Schläge, gewaltige Schläge bekommen!", und er tadelte sich selbst: "Aber ich, ich bin ja viel zu nachsichtig, viel zu nachsichtig bin ich!"

Ich erinnere mich an das Gesicht meines Großvaters. Er war ein Nazi, ein überzeugter Nazi bis zu seinem Tod vor drei Jahren. Jeden Sonntag besuchte ihn unsere Familie. Oft haben wir, die Kinder, uns dort gelangweilt. Einmal nahm ich ein altes Buch aus seinem Regal, weil ich auf dessen Rücken die Worte las: "Mein Kampf". Das erinnerte mich an Adolf Hitler, über den ich schon viel gehört hatte, und tatsächlich handelte es sich um dieses berühmte Buch. Nachdem ich es aufgeschlagen hatte, las ich die Widmung: "Dem Ortsbauernführer Ferdinand Brinkmann in Anerkennung seiner Verdienste für das deutsche Volk" oder ähnlich, ich erinnere mich nicht mehr so gut. Es folgten die Worte "Heil Hitler" und die Unterschriften irgendwelcher Bezirksleiter. Mein Großvater – ein Anhänger der Ideologie, die Strenge, Härte und Grausamkeit predigte! Und einmal, als das Fernsehen von Kämpfen in Palästina berichtete, hörte ich ihn sogar sagen: "Adolf hätte noch viel mehr Juden vergasen sollen!" So wenig Achtung hatte er vor einem Menschenleben! Da ist es nicht zu verwundern, dass auch Papa grausam ist!

Und Mama? Ist sie auch unmenschlich? Ich erinnere mich, wie sie gestern rief: "Nicht so fest, Karl!" – also nicht, "Hör auf, Karl!", nein, schlagen darf er, nur nicht zu fest! Sie selbst hat mich auch schon ein paar mal geschlagen, nicht so fest, aber immerhin! Und sie geriet oft wegen Kleinigkeiten in Wut. Als ich fünf Jahre alt war, verbrachte ich eine Woche bei Tante Inge. Ich habe nie vergessen, wie ich dort ein volles Glas Milch umgestoßen hatte. Ich schämte mich, hatte Angst, erwartete eine Strafe und fing an zu weinen. Doch was machte Tante Inge? Sie sagte: "Es ist nicht schlimm!", wischte die Milch auf und tröstete mich: "Du musst nicht weinen, Manfred..." Ich wunderte mich, glaubte, die Welt nicht mehr zu verstehen! Sie hat mich nicht geschlagen, nicht einmal geschimpft! "Sie ist ungerecht!", dachte ich, "Sie muss mich doch strafen!" Aber später verstand ich, dass nicht alle Frauen so sind wie Mama... Ob Mama auch eine grausame Erziehung erlebte? Vielleicht nicht gar so sehr. Sie erzählte einmal, dass Oma oft abends sie und ihre Geschwister mit dem Stock ins Bett trieb und dass sie dann alle Angst bekamen. Auch ich habe Oma nie gemocht. Damals, als Dirk, mein jüngster Bruder, geboren wurde, musste Mama ins Krankenhaus. Wir, die drei älteren Brüder, mussten also zur Oma gehen, damit sie für uns sorgt. Leider hatte sie nur ein kleines Bett, und das war für Martin, den jüngsten von uns dreien. Ich musste also in einem großen Bett schlafen. Ich weigerte mich und schrie! Dann wurde Oma wütend. Sie holte einen Stock und schlug schnell fünf bis zehn Mal auf meinen Hintern. Ich schrie, weinte fürchterlich... Schließlich wurde ich müde und bin eingeschlafen. Im großen Bett.

Ich kann noch genau ausrechnen, dass ich damals drei Jahre alt war. Vielleicht ist das meine erste Erinnerung. So beginnen meine Erinnerungen, mein Leben! Mein ganzes Leben lang mochte ich keine Großmütter mehr. Alle glaubten, Oma könne nicht einmal eine Fliege töten. Auch fehlte nicht viel, und ich hätte das geglaubt. Und ich hätte an ihrem Grabe geweint, wie Stefan, mein damals 12 Jahre alter Cousin.

Trauer und gleichzeitig eine Art Freude kommen in mir auf und vermischen sich. Ich überlege, wie weitreichend das Problem ist, das eben von mir entdeckt wurde. Ich erinnere mich, dass Papa oft seine Kollegen beneidet, indem er sie zitiert: "Hoffmann sagt: 'Wenn meine Kinder nicht gehorchen, bekommen sie Schläge!'" Und er versucht, damit den Eindruck zu erwecken, dass er doch so sanft und nachsichtig sei im Vergleich zu anderen Vätern. Wenn aber einer von seinen Kollegen zufällig anwesend ist, solange er seine Kinder beschimpft, mischt dieser sich niemals ein, um ihn zu beruhigen und den Kindern zu zeigen, dass er ungerecht und unmenschlich ist....

Es kann sein, dass diesen Kollegen nur die Fähigkeit fehlt mitzufühlen, wie ein empfindsames Kind unter Beschimpfungen leidet. Aber wahrscheinlich sind auch sie hart und grausam....

Es scheint, dass das Problem wirklich sehr komplex ist. Hat vielleicht auch Martina gelitten? Ist sie aus demselben Grund ängstlich wie ich? Ich muss mit ihr Kontakt aufnehmen. Ich kann ihr einen Brief übergeben... oder besser, ich könnte, wenn ich den Mut hätte. Wahrscheinlich würde das immer jemand sehen. Ich sollte ihn also lieber mit der Post schicken. Das wiederum würde komisch aussehen, ich sehe sie ja jeden Tag. Doch ... ich habe eine bessere Idee: In einigen Tagen beginnen die Herbstferien. Dann werde ich sie eine ganze Woche nicht mehr sehen. Dann einen Brief mit der Post an sie zu schicken würde weniger dumm aussehen. Vielleicht wird das ein Erfolg... Ich stelle sie mir neben mir vor und wir umarmen uns...

* * *

 

Am nächsten Morgen sehe ich an der Anschlagtafel der Schule eine Ankündigung, dass unsere Schülerzeitung bald wieder erscheinen wird. Zwei Wochen nach den Herbstferien ist Redaktionsschluss, und alle sind zu den Redaktionssitzungen eingeladen. Ich merke mir die Termine.

Ich muss unbedingt schreiben. Es haben sich zu viel ungesagte Worte aufgestaut, zu viele unterdrückte Gefühle. Aber zuerst sollte ich Martina schreiben. Dann werde ich den Artikel schreiben. Vielleicht werde ich dann schon glücklich sein und alles vernünftiger sehen, anstatt aus der Perspektive eines Unglücklichen. Zu Hause fange ich an, einen Entwurf für den Brief an Martina zu schreiben. An Ideen fehlt es nicht, aber es ist schwierig, die guten auszuwählen und zu ordnen...

Ein paar Tage später ist der Entwurf fertig. Ich kann also den endgültigen Brief schreiben. Nachdem ich ihn angefangen habe, bemerke ich, dass meine Schrift nicht so schön ist, wie ich sie gern hätte. Ich fange also noch einmal an...

Zwei Stunden später liegt der endgültige Brief vor mir:

 

Liebe Martina!

 

Zuerst will ich Dir mitteilen, dass ich diesen Brief schreibe, um Dich wissen zu lassen, wie ich über Dich denke, um die falschen Vorstellungen von Dir über mich zu korrigieren und um Dich zum Nachdenken anzuregen, Deine eigene Situation kritisch zu durchleuchten, wenn Du die nötige Offenheit dafür hast.

Viele denken, ich sei nur ein Streber, der den ganzen Tag lernt, um die besten Noten zu bekommen, der schweigsam ist und der sich daher weder viel mit anderen Menschen unterhalten will noch braucht. Aber sie übersehen ganz, dass mein Streben nach guten Noten nur von dem Wunsch beseelt ist, beliebt und anerkannt zu sein, während viele Teufelskreise mich, der ich im Grunde ein kommunikationsfreudiger Mensch bin, veranlassen, fast nichts mehr zu sagen.

Ich bin ein empfindlicher, sehr eindrucksfähiger Mensch und reagiere stark auf Kritik, Beleidigungen und Beschimpfungen, während andere Menschen, denen es an Einfühlungsvermögen fehlt, nicht wissen, was für ein Leid sie verursachen. Das bezieht sich besonders – aber nicht nur – auf meine Eltern, die nicht bemerkten, wie sie mir Schaden zufügten mit ihrer psychischen und physischen Gewaltanwendung. Als ich die Tatsache bemerkte, dass jede unüberlegte Aussage von mir, selbst wenn es keine böse Absicht war, den Ärger und den Zorn meines Vaters hervorrufen konnte, verlor ich das Vertrauen in andere Menschen und zog es vor zu schweigen. Ich wurde stumm.

Nach dieser Erfahrung, nach wie vor unverstanden, betrachte ich nun meine Mitmenschen als furchtbar oberflächlich; ich muss feststellen, dass sie ihre Aufmerksamkeit nur auf oberflächliche Interessen richten können, dass sie nicht fähig sind, frei und offen zu denken, zu sprechen und über sich zu schreiben, denn es fehlt ihnen der Zugang zu solchen Problemen, z.B. weil sie nicht wissen, wie quälend das Gefühl der Einsamkeit sein kann.

Es kommt noch das Gefühl hinzu, ihnen völlig gleichgültig zu sein; für viele ist die Freude der einzige Zweck ihres Handelns, während kaum einer auf die Idee kommt, dass es, um den Sinn des Lebens zu erfahren, notwendig ist, Abscheu zu empfinden gegen jegliches passive Sich-Treiben-lassen und vernünftig ein klares und umfassendes Verständnis dieser Welt anzustreben.

Mein Bestreben, diese Welt zu verstehen, richtet sich in erster Linie auf mich selbst – nicht, weil ich ein Egoist wäre, sondern weil ich denke, dass das Verständnis meiner selbst eine wichtige Grundlage ist für das Verständnis der anderen. Dennoch denke ich auch viel an andere Menschen und besonders an Dich.

Ich habe bemerkt, dass auch Du mal das Vertrauen in andere Menschen verloren hast, dass auch Dich Gefühle der Angst und Scham beherrschen. Genauso wie ich eifrig nach guten Noten strebe, tust auch Du dies, wie Dein siebenseitiges Protokoll über den letzten Chemieunterricht sehr eindrucksvoll zeigte, über das selbst Herr Mayer lachte, als er diese Hausarbeit kontrollierte – wahrscheinlich auch um beliebt und anerkannt zu sein. Um diese Ziele zu erreichen, bemühst Du Dich gewiss auch mit Hilfe Deiner außergewöhnlichen Attraktivität, die mich schon damals bezauberte, als ich Dich in der 5. Klasse zum ersten Mal sah.

Nun, am Ende dieses Briefes will ich Dir sagen, dass Du überhaupt keine Angst vor mir zu haben brauchst, sondern dass wir gemeinsam Probleme überwinden können und dadurch beitragen zu unserem Glück und dem der Welt.

 

Herzliche Grüße

Dein Manfred

 

PS: Ich würde mich sehr freuen, wenn Du auf diesen Brief antworten würdest, aber Du sollst Dich durchaus nicht dazu gezwungen fühlen. Ich werde in jedem Fall Deine Reaktion (oder Nicht-Reaktion) respektieren.

 

Ich stecke den Brief ins Kuvert und bringe ihn zum Briefkasten. Es ist der zweite Tag der Ferien, also eine gute Zeit. Vielleicht wird sie mich verstehen. Es wird ein Vertrauensverhältnis entstehen, wir werden uns ganz ungezwungen unterhalten. Es wird nichts mehr an mir geben, was ihr nicht gefallen würde... Ich werfe den Brief ein. Jetzt ist nichts mehr zu ändern. In mir herrscht freudige Erwartung, verbunden mit der Angst, der Brief könnte doch irgendwie ungeschickt geschrieben sein...

In den kommenden Tagen öffne ich jeden Morgen neugierig den Briefkasten unserer Familie. Wieder nichts für mich... Ich beschließe, nun doch schon mit dem Artikel für die Schülerzeitung anzufangen. Ich habe ja jetzt genügend Zeit. Früher war ich, bis vor wenigen Jahren, in den Herbstferien immer sehr beschäftigt. Zuerst, weil ich mit meinen Brüdern und den Nachbarjungen viel Fußball spielte. Aber dann wurden die Nachbarjungen älter und fingen an, sich nur noch für Motorräder, Rockmusik und Mädchen zu interessieren. Außerdem wurde auf der Wiese, wo wir immer gespielt hatten, ein Haus gebaut...

Die zweite Beschäftigung war weniger angenehm. Schon mit acht Jahren musste ich viel bei der Kartoffel- und Futterrübenernte auf dem Hof meines Onkels helfen, der ihn von meinem Großvater übernommen hatte. Jeden Herbst an zehn Nachmittagen und in den Ferien auch morgens. Der Verdienst stieg von 50 Pfennig auf 1 Mark, 2 Mark, nach und nach auf 5 Mark für einen Nachmittag – bis schließlich mein Onkel entschied, diese Früchte mit der Maschine zu ernten. Das freute meinen Vater überhaupt nicht; er sah es viel lieber, wenn seine Söhne "Männer-Arbeiten" verrichteten wie das Helfen bei der Ernte.

Ich jedoch freute mich darüber, denn diesen Zwang gab es plötzlich nicht mehr. Ich habe nun Zeit – Zeit, die ich nutzen kann und muss. Mein Körper ist nur eine Kombination von Organen, diese wiederum sind Kombinationen von Zellen, die ihrerseits aus Molekülen bestehen. Dies alles ist instabil und leicht zu beschädigen. Ergreife also die Gelegenheit, nutze die Zeit, bevor alles zerstört ist!

Ich beginne, den Artikel zu schreiben. Von neuem zeigt sich das Problem, dass viele Ideen, die mich zuerst begeistert haben, mir plötzlich nicht mehr gefallen. Lange sitze ich vor weißen Blättern...

Eines Abends sitzen ich und meine Brüder im Wohnzimmer, als Papa schlechtgelaunt hereinkommt und klagt: "Den ganzen Tag hocken sie daheim herum! Vier Männer! Wenn man das jemandem erzählen würde!

Und er fragt mich in einem unfreundlichen Ton: "Willst du nicht den Abend mit deinen Freunden verbringen? Ha, du hast keine Freunde? Weder einen Freund, noch eine Freundin? Ich sage dir, warum: Weil du dich anderen Menschen nicht unterordnen kannst!"

"Das stimmt nicht!", schreie ich verärgert, tief verletzt über die Behauptung, die so sehr meinen vorigen Untersuchungen widerspricht.

"Warum hast du denn keine Freunde?"

Ich fasse Mut, überwinde einen starken Widerstand in mir und sage: "Weil du mich so unterdrückst!"

"Das muss er verstanden haben!", denke ich. Ich fühle mich erleichtert, irgendwie froh.

Doch Papa bleibt unbeeindruckt: "Ich und unterdrücken! Ha, schau dir andere Väter an, dann weißt du, ob ich dich unterdrücke!"

 

Traurig gehe ich ins Bett. Ich bin machtlos, unterlegen...

 

* * *

 

Am Ende der Ferien liegt ein Manuskript vor mir, mit dem ich recht zufrieden bin. Die wichtigsten Ideen sind drin, Einzelheiten sind nicht so wichtig!

Am Morgen nach dem Ende der Ferien fahre ich mit gemischten Gefühlen in die Schule. Martina hat nicht geantwortet; aber in einigen Minuten werde ich sie wiedersehen. Ich habe ein bisschen Angst... Ich gehe ins Klassenzimmer und sehe Martina am Tisch sitzen. Sie bemerkt mich etwas spät. Sie schaut nach oben, erblickt mein Gesicht und – erschrickt. Sie bekam einen kleinen Schock, der sich auch auf mich übertrug. Etwas zaghafter und nervöser als sonst sage ich wie gewohnt "Guten Morgen", was sie erwidert.

Während der kommenden Stunden verhält sie sich mir gegenüber wie früher, so als ob sie meinen Brief überhaupt nicht bekommen hätte. Könnte es so sein? Plötzlich beginne ich zu zweifeln, ob sie mehr als sonst erschrocken ist. Es könnte sein, dass jener Schock, den ich fühlte, gar nicht in ihr entstand, sondern in mir, weil ich Angst hatte, sie wiederzusehen! Eltern geben doch gewöhnlich Briefe an ihre Kinder weiter; wahrscheinlich hat sie ihn auch bekommen. Vielleicht werde ich nie erfahren, welche Vermutung richtig ist...

 

* * *

 

Zwei Wochen später fahre ich zur Redaktionssitzung unserer Schülerzeitung. Ich weiß: Heute ist Redaktionsschluss. Ich muss also unbedingt daran teilnehmen. Wer weiß, wann die übernächste Nummer erscheinen wird?

Schon vor einer Woche wollte ich zu dieser Sitzung gehen. Ich fuhr mit dem Fahrrad los, nahm auch den Artikel mit, sieben handgeschriebene Blätter. Aber unterwegs tauchten Zweifel auf, die mich mehr und mehr beunruhigten. Ich muss unbedingt noch ein oder zwei Abschnitte ändern, vielleicht sogar mehr. Kann es auch sein, dass alles, was ich schrieb, Wahnsinn ist, Produkt eines kranken Gehirns? Wie werden die Redaktionsmitglieder reagieren? Außerdem wäre es vielleicht doch besser, wenn ich alles erst mit der Maschine schreiben würde. Ist es nicht möglich, den Artikel per Post an die Redaktion oder an ein Redaktionsmitglied zu schicken – vielleicht sogar anonym? Auch in diesem Fall könnte ich die anderen zum Nachdenken anregen. Aber ich will ja mehr! Und vielleicht würden sie einen anonymen Artikel nicht einmal veröffentlichen! Als ich die Schule erreicht hatte, bin ich einmal um sie herumgefahren und dann wieder heim.

Dann änderte ich einige Sätze und schrieb den Artikel mit der Maschine. Und nun ist alles zur Veröffentlichung fertig. Es sind genau vier Seiten. Das ist gut, denn wenn die Zeitung schon mehr oder weniger fertig ist, kann man einfach ein Blatt hinzufügen, also vier Seiten. Wenn sie nicht wollen, könnte ich ihnen anbieten, die zusätzlichen Druckkosten zu bezahlen...

Zitternd ging ich in die Schule. Ich sehe, dass die Türe des Zimmers offen ist. Mein Herz schlägt stark und schnell. Ich gehe hinein – ich erblicke drei bekannte Gesichter. Ralf, Irene und Klaus begrüßen mich. "Willst du ein wenig mithelfen?", fragt mich Ralf. "Ich habe etwas geschrieben", antworte ich. "Oh, gut!", sagt Ralf, und ich hole die Blätter aus meiner Tasche. Ich gebe sie Ralf, der sofort beginnt, sie neugierig zu lesen. Ich werde ein bisschen ruhiger. Der Artikel muss ihm gefallen, denn auch Klaus ist ein kleiner Revolutionär, allerdings auf eine andere Art als ich. Er sieht ungepflegt aus, wild, und jeder in unserer Schule weiß von seinem Engagement gegen Atomenergie, gegen Aufrüstung, gegen unser Schulsystem, gegen alles.

 

Ralf liest den Artikel:

 

EINER UNTER ANDEREN

 

Manchmal sitze ich, beherrscht von einem Gefühl absoluter Einsamkeit und tiefer Unruhe, irgendwo im Klassenzimmer und denke über meine eigene Situation nach, deren wesentliches Merkmal ein quälendes Gefühl von Einsamkeit ist, das entstanden ist durch fehlendes Einfühlungsvermögen der Menschen in meiner Umgebung.

Deren Gedanken beschäftigt nicht die Frage, ob einer mitteilsam ist oder nicht – oder wenn doch, gehen sie einfach von der Vermutung aus, dass nur diejenigen sich gerne unterhalten, die viel reden, aber kaum einer denkt daran, dass sich hinter jemandes Angst, andere Menschen anzusprechen, der Wunsch verbergen könnte, sich jedem mitteilen zu können und Freundschaften zu pflegen.

In den letzten Jahren – und nicht nur da – verbrachte ich, teils sehr unfreiwillig, die meiste Zeit allein; ich sprach wesentlich weniger als andere; aber vielleicht nützt es nicht viel, sich mit Leuten zu unterhalten, die sich für Motorräder interessieren, für Ergebnisse von Fußballspielen und ähnlich belanglose Dinge.

Meine Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass es möglich ist, gegen seinen Willen in eine Situation zu geraten, die gekennzeichnet ist durch:

 

Aber wichtiger als all dies ist für mich das Gefühl, dass meine erste Liebesbeziehung zu einem Mädchen noch in weiter Ferne liegt.

 

Die Ursachen dieser Probleme suche ich in erster Linie in der Erziehung, die ich erfahren habe. Mein Mangel an Mut, andere Menschen anzusprechen, resultiert aus der Tatsache, dass ich aus einer Familie komme, in der Aussagen von mir nicht nur missverstanden, sondern auch missbraucht wurden, um angestauten Zorn loszuwerden, und in der ich heute noch machtlos bin gegen gewisse Unwahrheiten und unberechtigte Vorwürfe. In mir stecken große Ängste, verursacht durch eine autoritäre Erziehung, die ich aufgrund meiner Empfindsamkeit oft als grausam erfahren habe.

Ich denke z.B. an

 

Während meine Mutter mich nur verhältnismäßig selten schlug und aus nachvollziehbaren Gründen und ihre Schläge weniger körperlichen, sondern fast nur seelischen Schmerz (Enttäuschung!) verursachten, pflegte mein Vater mich schon bei Anlässen zu strafen, die mir gänzlich belanglos vorkamen, besonders, wenn ich versuchte zu protestieren. Er schlug mich einmal mit der flachen Hand so stark gegen den Hinterkopf, dass ich wegen der unbeschreiblichen Schmerzen bleibende Schäden als Beweis wünschte, und als ich schließlich keine finden konnte, da hielt mich, zitternd am ganzen Körper und mir immer noch keiner Schuld bewusst, nur der Gedanke an die Möglichkeit, später über diese Vorkommnisse zu schreiben, vom Selbstmord ab.

Zum Leiden an den Umständen zu Hause kommt die Traurigkeit über die fehlenden zwischenmenschlichen Kontakte hinzu. Ich denke, dass auch viele andere Menschen nicht immer glücklich sind und dass ich vielleicht nicht der einzige Mensch bin, der nie jemanden kannte, der ihn verstand. Es ist wichtig, erlittene Grausamkeiten zu beleuchten, die heute viele Menschen genauso kritiklos ansehen wie einst den Faschismus. Es ist notwendig, offen über sie zu sprechen, denn solange uns die Möglichkeit und die Bereitschaft fehlt, über Schäden zu sprechen, die von der Erziehung herrühren, können wir ihre Ursachen nicht bekämpfen.

 

Dieser Text ist unreif, denn Denkanstöße von den Lohrern und Gleichaltrigen waren äußerst rar. Er bietet einen Einblick in Gedanken, die mich teilweise schon seit vielen Jahren beschäftigen, ohne dass ich darüber sprechen konnte, und die mir nun auch in Augenblicken, da es mir gut geht, nicht mehr seltsam erscheinen.

 Manfred Brinkmann

 

"Gut!", sagt Ralf, nachdem er den Artikel gelesen hatte. Das ist zwar nicht viel, aber er ist ja auch ein ganz andersartiger Mensch als ich, mit ganz anderen Gedanken und Problemen. Dann lesen auch Irene, die Dichterin, und Klaus, der sich mit den Reklame-Annoncen und dem Layout befasst, ihn durch und äußern sich genau wie Ralf: "Gut!" Meine Nervosität verschwindet fast ganz, und ich fühle mich einigermaßen glücklich.

Klaus schlägt vor, wir sollten nun Hefte und Bücher nach geeigneten Witzen und Zeichnungen für die Zeitung durchsuchen. Ich stimme dem gerne zu, obwohl ich mir darüber im Klaren bin, dass dies eine oberflächliche Beschäftigung ist. Aber irgendwie freue ich mich, dass wir nun nicht ausführlicher über meinen Artikel sprechen. Eine ganze Stunde lang finde ich fast keine geeignete Zeichnung, aber das ist für mich jetzt nicht so wichtig. Bevor ich mich von den anderen verabschiede, frage ich Ralf, wann denn die Zeitung erscheinen wird. "In drei Wochen", sagt er.

 

* * *

 

Am kommenden Tag betrachte ich meine Klassenkameraden etwas anders als vorher. Ich stelle fest, dass auch ihre Augen nicht mehr so froh aussehen... Noch drei Wochen, und sie werden erfahren, dass diese Welt, in der man seine Leiden verbirgt, nicht die wahre Welt ist. Sie werden erfahren, dass ich ihr Kamerad sein will, ihr Freund, und dass ich im Innern eigentlich gesprächig bin und es begrüßen würde, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Die Masken werden fallen; sie werden erfahren, dass die Fröhlichkeit nur Schein ist, und dass wir alle bis jetzt etwas Wichtiges verschwiegen haben...

Aber... gibt es da nicht auch Nachteile? Ich werde nicht mehr allein sein, sondern unter Freunden. Es wird mir die Ruhe und die Zeit zum Nachdenken fehlen. Ich werde schutzlos dastehen. Irgendwie habe ich die Einsamkeit geliebt...

Und wie wird Papa über den Artikel denken? Vielleicht wird er auch überhaupt nichts davon erfahren. Und wenn doch? Ich habe nur die Wahrheit geschrieben; trotzdem könnte er wütend werden. Aber das würde mich nur bestätigen...

 

* * *

 

Drei Wochen später gehe ich in der großen Pause in die Halle – und sehe, wie mehrere Schüler gelbe Hefte in der Hand halten. Ich werde nervös... und erblicke einen Tisch, hinter welchem Ralf und Klaus stehen und fleißig diese Hefte verkaufen. Ich kaufe zwei Exemplare und zahle dafür eine Mark. Ich gehe an einen ruhigen Ort und wage, die Zeitung aufzuschlagen. Ich erschrecke, als ich plötzlich irgendwo darin den Titel "EINER UNTER ANDEREN" lese. Ja, er ist erschienen. Nun wird sich alles ändern... Ich mache die Zeitung sofort wieder zu. Ich habe nicht den Mut, den Artikel zu lesen. Und ich habe auch nicht den Mut, die anderen anzuschauen, deren Gesichter ich vorher immer so gern beobachtete. Ich fühle mich schutzlos, so als hätte ich mich ihnen ausgeliefert. Ich habe Angst vor dem, was ich vorher so heiß ersehnte. Am liebsten würde ich fliehen, damit sie sich zuerst allein mit meinen Denkanstössen beschäftigen können...

Alles sieht so unklar, neblig aus. Ich weiß nicht, was ich nun machen soll. Ich schlage die Zeitung wieder auf, gebe aber sorgfältig darauf acht, dass ich nicht die falschen, also meine Seiten, aufschlage. Ich lese ein bisschen im übrigen Teil der Zeitung, ohne mich wirklich auf diese Texte und Abbildungen konzentrieren zu können.

Zum Glück ist die Pause nun zu Ende. Ich gehe in das Klassenzimmer, wo gleich der Lateinunterricht anfangen wird. Ängstlich schaue ich umher, vermeide es aber, meinen Klassenkameraden ins Gesicht zu schauen. Auf dem Tisch von Karsten sehe ich die Zeitung, und Johannes liest sogar darin! Zum Glück kommt jetzt Dr. Kramer herein. Wir übersetzen aus dem Buch Der Gallische Krieg von Caesar, aber ich bin zu nervös, um mich auf die übersetzten Sätze zu konzentrieren. Ausgerechnet in diesen Stunden geschehen tiefgreifende Veränderungen in meinem Leben...

Nach dem Unterricht ist wiederum eine kleine Pause, und ich sehe, dass Johannes die Zeitung wieder aufschlägt und – er liest sogar meinen Artikel! Plötzlich dreht er sich zu mir um und spricht mich an: "Was bedeutet 'Lohrer'?", fragt er, zeigt mit dem Finger auf ein Wort am Ende meines Artikels und lacht ein wenig. "Lehrer", antworte ich und fühle mich gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Ist das alles, was er zu meinem Artikel zu sagen hat? Er ist ein oberflächlicher Mensch, ja, mit ihm habe ich eigentlich nicht gerechnet bei meinen Plänen, die Welt zu verbessern...

 

* * *

 

Ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause durch die herbstliche Landschaft und stelle mit Bedauern fest, dass in den nachfolgenden Unterrichtsstunden kein weiterer mich wegen des Artikels angesprochen hat. Wahrscheinlich brauchen sie etwas Zeit zum Durchlesen und zum Verdauen des Artikels. Er ist zum Teil ja ein bisschen kompliziert, vielleicht in einem zu schwierigen Stil geschrieben, und nicht jeder fand in den Pausen schon die nötige Zeit und Ruhe, um sich damit zu beschäftigen. Aber nun, heute nachmittag, werden sie wieder lesen...

 

Zu Hause angekommen sehe ich Papa wieder und denke: "Nun wissen alle, dass du Unrecht hast. Vielleicht würdest du glauben, ich wollte dich beleidigen. Aber wahrscheinlich wirst du nicht einmal erfahren, was ich gemacht habe. Und wenn doch, dann werden schon hundert oder tausend Menschen es gelesen haben und auf meiner Seite sein. Aber ich wollte dich ja nicht beleidigen, ich wünsche dir nichts Böses..."

 

* * *

 

Am kommenden Morgen fahre ich ein bisschen langsamer zur Schule als sonst. Ich will genau um acht Uhr dort sein, nicht vorher. Ich will ihnen aus dem Weg gehen; sie sollen sich erst selbst damit beschäftigen. Fürchte ich ihre Reaktionen oder... ich weiß es nicht.

Aber ich stelle mit Bedauern fest, dass alles genau so ist wie vorher. Niemand spricht mich an, weder um etwas über den Artikel zu sagen, noch wegen ihrer neuen Einsicht, dass ich mich eventuell darüber freuen würde. Vielleicht brauchen sie einfach mehr Zeit.

Zwei Tage später hat mich immer noch niemand angesprochen, außer Johannes. Ich bemerke, dass sogar die Einsamkeit in den Pausen noch da ist. Sie haben nicht reagiert. Sie gehen mit mir um wie zuvor. Sie sind blind, sehr blind. Ja, wenn ich vor ihnen auf die Knie ginge, weinen und schreien würde, würden sie vielleicht Mitleid haben, sie würden zuhören – oder auch nicht. Sie würden mich einfach für verrückt halten.

Ich dachte einmal, dass ich mich bestimmt niemals selbst töten würde. Denn, wenn ich Selbstmord begehen wollte, wäre die Welt sehr schlecht. Wenn die Welt aber schlecht wäre, müsste ich sie ändern. Ich würde also gebraucht werden, mein Leben hätte einen Sinn, ich muss daher weiterleben... Ich habe damals bemerkt, dass diese Schlussfolgerung nicht ganz richtig war. Selbstmord könnte die wirksamste Methode sein, um die Welt zu ändern: Ich könnte sie durch so eine Tat zum Nachdenken bringen, wenn ich Abschiedsbriefe schreibe...

Nun, alle diese Überlegungen erweisen sich als lächerlich. Es ist nicht möglich, die Welt zu ändern. Ich hätte mich vergeblich umgebracht, oder vergeblich weitergelebt...

Ich muss meine Gedanken über Selbstmord oder Weiterleben neu formulieren: Man soll weiterleben, wenn man im Augenblick einigermaßen glücklich ist, oder wenn man annehmen kann, dass man eine glückliche Zukunft haben wird. Oder wenn man gebraucht wird, damit andere Menschen glücklich bleiben oder es werden... Der zweite dieser Gründe, also das Weiterleben aufgrund der Hoffnung auf eine glückliche Zukunft, scheint mir interessant zu sein. Ich merke, dass ich gesund bin, wenigstens körperlich. Ich werde die Schule bestimmt gut abschließen und einen guten Arbeitsplatz finden. Ich werde mich von meinen Eltern trennen, werde Frau und Kinder haben. Und obwohl mir das Leben im Augenblick nicht viel Freude bereitet, denke ich, dass ich doch fähig bin, Glück und Liebe zu empfinden... Ich will also weiterleben. Wenigstens vorläufig.

 

* * *

 

Nach einer Unterrichtsstunde gehe ich zufällig mal neben Frau Keller, meiner Deutschlehrerin, die Treppe hinunter. Es ist schon der dritte Tag seit dem Erscheinen meines Artikels. Plötzlich schaut sie mich vorwurfsvoll an und beginnt zu sprechen: "Sag mal, Manfred, was hast du da für einen seltsamen Artikel in der Schülerzeitung geschrieben?" Wir schweigen einen Moment, da sie merkt, dass ich auf diese Frage keine Antwort weiß, und sie fährt fort: "Weißt du, ich bin auch geschlagen worden, aber das war gut für mich. Ich kenne deinen Vater und weiß, dass auch er nur dein Wohl im Auge hat!" – "Ich bin da anderer Meinung!", sage ich und wir gehen auseinander. Gerade gegen solch gefährliche Meinungen will ich kämpfen... Sie hat nicht verstanden, will nicht verstehen... Glücklicherweise kritisierte sie nur das, wovon ich felsenfest überzeugt bin!

Der nächste Tag ist ein unterrichtsfreier Samstag, an dem ich zu Hause bleibe. Ich verbringe den Morgen in meinem Zimmer, lese und lerne ein bisschen. Plötzlich kommt Mama herein: "Hier, ein Brief für dich", sagt sie, und ich bin überrascht, als ich auf dem Kuvert meine Adresse las, in einer Handschrift geschrieben, die ich schon seit langem kenne: "Martina!", denke ich blitzschnell und tatsächlich: Auf der Rückseite steht ihr Name. Ein Strom von Wärme durchläuft meinen Körper; ich empfinde Freude, Glück! Noch einige Minuten betrachte ich das Kuvert, sehe, dass der Brief dünn ist, doch es scheint, dass dieses eine Blatt, das er enthält, vollgeschrieben ist...

Schließlich fasse ich den Mut, ihn zu öffnen, und fange an zu lesen. Plötzlich verschwindet meine Freude und mein Glück; es bleiben Neugierde, Angst und Verwunderung.

 

Hallo, Manfred!

Als ich in den Herbstferien Deinen Brief bekam, war ich ziemlich enttäuscht, denn ich hätte niemals geglaubt, dass so Dein Inneres aussieht. Je öfter ich Deinen Brief las, um so mehr ärgerte ich mich aus zwei Gründen: erstens, weil ich mich von Dir beobachtet fühlte, und zweitens, weil Du mich in vieler Hinsicht falsch beurteilst.

Jetzt, da Dein Artikel in der Schülerzeitung erschienen ist, habe ich mich entschlossen, Dir einen Brief zu schreiben. Mir sind verschiedene Dinge aufgefallen, die ich Dir, glaube ich, mitteilen muss: Genau so wie in Deinem Brief an mich, so verurteilst Du auch in diesem Artikel Deine Mitmenschen, die so oberflächlich seien, sich nur für belanglose Dinge interessieren, sich hinter heuchlerischen Masken verstecken und Dich und Deine Probleme nicht wahrnehmen.

Ich bin auch der Meinung, dass das Interesse an Motorrädern und Fussballergebnissen die Bereitschaft, anderen Menschen bei ihren Problemen zu helfen, nicht ausschließen darf. Ich z.B. beschäftige mich gerne mit Musik und halte mich trotzdem für fähig, mit anderen Menschen über deren Probleme zu sprechen. Und außerdem kannst Du nicht verlangen, dass andere Menschen Dir helfen sollen, Deine Probleme zu überwinden, wenn Du keinen Kontakt mit anderen Menschen aufnimmst, um ihnen bei ihren Problemen zu helfen.

Aber am meisten hat mir die Tatsache missfallen, dass Du die Schuld für Deine Probleme immer bei anderen Menschen suchst und niemals bei Dir selbst.

Ich bitte Dich, sei so gut und denke darüber nach, was ich Dir geschrieben habe.

 Tschüss, Martina

 

Aus Enttäuschung las ich den Brief noch einmal; ich betrachte ihre nach links geneigte Handschrift, die ich jetzt hässlich und kindisch finde. Selbstverständlich werde ich ihr antworten müssen, dass sie mich nur falsch verstanden hat; wir haben ja eigentlich dieselben Ziele – die Beseitigung von Problemen, nicht nur meiner eigenen... Als ich die ersten Sätze noch einmal las, hatte ich plötzlich eine Idee für den Anfang meines Antwortschreibens:

 

Liebe Martina,

Du kannst Dir nicht vorstellen, wie ich mich über Deinen Brief gefreut habe – bevor ich ihn öffnete...

 

Aber dieser Scherz konnte meine Traurigkeit nicht beseitigen. Verletzt hat mich besonders die Behauptung, ich suche die Schuld immer nur bei anderen Menschen. Gerade das habe ich Papa immer vorgeworfen... Hat Mama Recht, wenn sie sagt, dass ich "ganz meinem Vater nachschlage"? Sie sagte das einmal, als ich sie unüberlegt wegen etwas tadelte. Das tat mir allerdings sofort leid...

Damals dachte ich: Wenn Mama Recht hätte, müsste ich mich töten, denn ich müsste so eine Ähnlichkeit mit allen Mitteln vermeiden... Aber zum Glück war ich überzeugt genug, dass ich tief in meinem Innern ein ganz anderer Mensch bin und niemals so wie mein Vater werden kann. Ich bin mir meiner selbst bewusst und fähig, alle meine schlechten Gewohnheiten zu erkennen und mit Erfolg dagegen anzukämpfen. Aber nun kommt derselbe Vorwurf auch von Martina, vielleicht nicht einmal ganz zu Unrecht.

Kann es sein, dass man in der Kindheit automatisch schlechte Eigenschaften seiner Eltern annimmt und sich später nicht mehr von ihnen lösen kann, unabhängig davon, wie sehr man sich darum bemüht? Was meine Gesprächigkeit anbelangt, habe ich schon bemerkt, dass es nicht möglich ist, mich zu ändern. Bin ich nur eine Last für die Menschheit, wegen der bösen Neigungen und Eigenschaften, die ich ungewollt, automatisch mitbekommen habe, als ich ein kleines Kind war? Soll ich diese Welt denen überlassen, die wirklich gut gewillt und froh sind, damit die Menschheit glücklicher wird?

Ich hatte schon oft Selbstmordgedanken, aber nun taucht ein neues Motiv auf, das ich vorher nie ernsthaft behandelte. Ich überlege, ob ich mich wirklich nicht von schlechten Eigenschaften befreien kann, die ich von meinem Vater übernommen habe. Doch plötzlich erscheint ein kleiner Hoffnungsschimmer. Ich erinnere mich, dass sich Dirk einmal, vor vielen Jahren, beim Mittagessen geweigert hatte, seinen Krauskohl zu essen. "Man muss ihn schlagen", sagte ich zu Mama, und, weil Papa nicht da war, tat sie seinen Kohl einfach wieder zurück in den Topf. "Immer erst nächstes Mal", klagte ich ärgerlich, "immer erst nächstes Mal!"

Jetzt ist es für mich ganz klar: Eltern sollen ihre Kinder nicht schlagen. Irgendetwas hat sich also in mir geändert. Ich will mich daher bemühen, auch alle anderen schlechten Überzeugungen, Neigungen und Verhaltensweisen, die ich von meinem Vater übernommen habe, abzulegen. Jedenfalls verabscheue ich schon körperliche Gewalt; jetzt muss ich auch aufhören zu beschimpfen. Ich will Vorwürfe jeder Art verabscheuen. Es war böse, Martina in meinem Brief zu schreiben, dass meine Mitmenschen oberflächlich seien, und in meinem Artikel Menschen zu kritisieren, die sich für Bagatellen interessieren. Tatsächlich habe ich sie nur beneidet, und diese Kritik war kein gutes Mittel, ihre Sympathie zu erlangen. Mit Freundlichkeit erreicht man oft mehr...

Und ich fühle mich wieder irgendwie glücklich. Ich beschließe, Martina einen sehr freundlichen Brief zu schreiben, indem ich ihr mitteile, dass ihr Brief mich tatsächlich zum Nachdenken gebracht hat.

 

In der kommenden Nacht ist es mir trotzdem nicht gelungen zu träumen, ich wäre in sie verliebt.

 

* * *

Der Monat Dezember hat begonnen. Die Tage werden kürzer; in Dunkelheit und Kälte fahre ich morgens mit dem Fahrrad zur Schule. Es friert mich unterwegs. Im Klassenzimmer ist ausreichend Wärme, um meine Hände und Füße aufzutauen, mein Herz jedoch erreicht sie nicht. In einer Pause stehe ich wie gewöhnlich allein, als plötzlich Kerstin mich anspricht – ein Mädchen, das gerne auf Feste und in Diskotheken geht, ich habe also keine besonders hohe Meinung von ihr. "Ich habe kein Wort deines Artikels verstanden", sagt sie. "Du bist ein Mensch, und ich bin ein Mensch, also kannst du mich ansprechen und andere auch... " – "Ja", antworte ich, obwohl ich nicht wirklich einverstanden bin, aber ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll... Wir schweigen, und nach einem Moment geht sie weiter.

In meiner Fantasie entsteht eine Szene:

Ein Patient geht zum Psychiater: "Ich habe Probleme, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen." Sagt der Psychiater: "Macht nichts, sprich sie einfach an!" Und von da an ist der Patient glücklich und zufrieden...

Aus irgendeinem Grund muss diese Überlegung falsch sein. In meinem Artikel versuchte ich, dies zu erklären, aber anscheinend hat es niemand verstanden.

Am Anfang der Weihnachtsferien erinnere ich mich, dass ich in meinem Artikel geschrieben habe, dass ich meine Ferien nicht gerne ohne Kontakt mit meinen Klassenkameraden verbringe. Haben sie das gelesen? Warum haben sie nichts unternommen, um dies zu ändern?

Irgendwann war Weihnachten ein interessantes Fest, an dem die ganze Verwandtschaft zusammenkam. Meine Onkels und Tanten kamen mit der ganzen Familie in unser Städtchen, um meine Großeltern zu besuchen – sowohl die väterlicherseits als auch die mütterlicherseits. Einige von ihnen blieben eine ganze Woche und zwischen den ungeheuer vielen Spielsachen, die ich, meine Brüder, meine Cousins und Cousinen bekommen haben, waren immer mehrere, mit denen wir uns bis zum Ende der Ferien vergnügten. Aber inzwischen sind alle meine Großeltern gestorben, außer einem Großvater – aber er will in seinem Haus nicht so viel "Tumult" haben. Meine Cousins und Cousinen sind älter geworden und haben ihre eigenen Interessen. Und Mama schenkt nicht mehr gern Spielsachen, sondern nützliche Dinge. Meine Vorfreude auf Weihnachten ist gering...

 

* * *

Am Tag vor Weihnachten gibt mir Mama wieder einen Brief. "Hier, für dich!", sagt sie. Wieder genügt ein Blick auf die Adresse, um zu erfahren, wer ihn geschickt hat: Diese schönen, großen, rundlichen Buchstaben erinnern mich an Veronika. Ich freue mich sehr über diesen Brief, aber – im Gegensatz zu damals, als ich Martinas Brief in den Händen hielt – empfinde ich kein Glücksgefühl. Ich habe ja immer die Reife und Menschlichkeit von Veronika bewundert, aber leider ist sie sehr groß, und ihr Aussehen ist nicht so ganz nach meinem Geschmack. Ich kann sie mir nur schwer als meine Freundin vorstellen... Da ich weiß, dass dieser Brief zweifellos freundlich ist (sonst hätte sie ihn sicher nicht ausgerechnet vor Weihnachten geschrieben!), öffne ich ihn mit einem guten Gefühl und fange an zu lesen:

 

Lieber Manfred,

ich habe mich vergeblich bemüht, auf Deinen Artikel in der Schülerzeitung zu antworten. Beim Versuch bemerkte ich, wie schwierig es ist, die eigenen Gedanken zu ordnen und sie so in Worte zu fassen, dass man nicht missverstanden werden kann.

Dies wäre sicher passiert, denn es überkam mich die Versuchung, mich zu sehr auf Einzelheiten zu konzentrieren. Daher zog ich es vor, diesen Plan fallen zu lassen.

Trotzdem will ich Dir einfach sagen, dass ich Deinen Artikel gelesen habe und dass er mich zum Nachdenken angeregt hat. Die Feststellung, dass ich praktisch nichts über Dich wusste, obwohl wir uns schon sehr lange kennen, hat mich etwas erschüttert.

Ich will nicht viele Worte machen, sondern möchte Dir nun lieber von Herzen wünschen, dass Du zufrieden wirst in Deinem Leben.

Tschüss – und frohe Weihnachten

Deine Veronika

 

"Es ist nicht viel, was sie schreibt", denke ich. Trotzdem ist der Brief erfreulich; mir fällt auf, dass in dem von Martina Glückwünsche gänzlich fehlen...

 

* * *

 

Ein halbes Jahr später habe ich die Reaktionen auf meinen Artikel zusammengefasst. Es waren insgesamt sieben. Die von Johannes, von Frau Keller, von Kerstin, die Briefe von Martina und Veronika... Leider antwortete Martina auf den zweiten Brief nicht, aber es kamen zwei weitere Reaktionen hinzu: Mein Vater hörte von dem Artikel über Frau Keller und auch von ein, zwei weiteren Personen. Er wollte ihn nicht lesen, aber er erzählte, dass alle auf seiner Seite stünden; er muss sich nur schämen, dass er einen so undankbaren Sohn hat.

Es kam noch eine Information von Rolf hinzu, der mir etwas Interessantes mitteilte: Frau Lindner, eine evangelische Religionslehrerin, behandelte in einer neunten Klasse meinen Artikel in zwei Unterrichtsstunden. Ich freute mich. Dann fragte ich Ralf nach der nächsten Ausgabe der Schülerzeitung. "Wahrscheinlich wird sie überhaupt nicht mehr erscheinen", sagte Ralf, "du hast vielleicht schon erfahren, dass Klaus die Schule verlassen hat..." Es blieb also ein einmaliger Versuch in meinem Leben, verstanden zu werden. Und dieser Versuch ist gescheitert...

"Vielleicht werde ich nie einen verständnisvollen Menschen finden", dachte ich, bis ich an einem Sommernachmittag Erik kennen lernte.

Ich war noch sechzehn und ging in der Fußgängerzone von Warburg spazieren. Als ich an den Schaufenstern eines Kinos vorbeikam, sah ich mir kurz die Plakate an... bis mich ein Mann mittleren Alters ansprach:

"Guten Tag – etwas Interessantes entdeckt?"

"Ich weiß nicht", antworte ich, "ich schaue nur."

"Dieser Film 'Die Möwe Jonathan' ist sehr schön und interessant – ich habe ihn schon gesehen und dennoch würde ich ihn gern ein zweites Mal sehen... Sollen wir reingehen?

"Nein..."

"Warum nicht?"

Ich sage nichts. "Du scheinst ein sehr ruhiger Mensch zu sein", setzt er das Gespräch fort, "so schweigsam... warum?"

"Ich weiß nicht..."

"Ich bin Erik", sagt er, "und du?"

"Ich bin Manfred."

"Wohnst du hier in Warburg?"

"Nein, in Ossendorf, der Nachbarstadt. Aber ich gehe hier zur Schule."

"Ins Gymnasium?"

"Ja. Und Sie, welchen Beruf haben Sie?"

"Du kannst ruhig 'Erik' zu mir sagen", bittet er mich und lächelt.

Ich bin überrascht, dass er mich bittet, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen, obwohl er schon ungefähr fünfzig ist, gut gekleidet und seine kurzen, ordentlich gekämmten Haare schon grau sind. Er gewinnt schnell mein Vertrauen...

"Ich arbeite für eine große Firma", antwortet er auf meine Frage.

Wir stehen noch vor dem Kino, als er mich schließlich fragt: "Gehen wir rein? – ich zahle." Ich bin einverstanden und gehe mit. An der Kinokasse zeigt er mir sein Portemonnaie mit einer Menge Hunderter und zahlt mit einem von ihnen. Nach Betreten des Kinosaals bittet er mich, neben ihm in der letzten Reihe zu sitzen: "Von hier sieht man am besten."

An diesem Nachmittag ist der Kinosaal fast leer und bleibt es auch, als bald darauf der Film beginnt. Wir, der fremde, aber offensichtlich sehr verständnisvolle Mann und ich, können also ungeniert unsere Unterhaltung fortsetzen.

Er fragt mich nach meinen Lieblingsschulfächern, meinen Hobbys, meinem Verhältnis zu meinen Eltern, meinen Problemen – und auch nach meiner finanziellen Lage. "Ich bekomme nicht viel", antworte ich, "aber ich brauche auch nicht viel..."

"Ich habe eine Unmenge Geld, meine Firma gibt mir zuviel", sagt er, offensichtlich nicht um zu prahlen, sondern um mir das Gefühl zu geben, dass er dies ungerecht finde.

Dann richtet er an mich eine Frage, die ihm wichtig zu sein scheint: "Haben wir vielleicht gemeinsame Interessen?"

"Ich weiß nicht... welches sind Ihre Interessen?"

Er lächelt, und ich verstehe: "Verzeihe – deine!"

"Es scheint, wir verstehen einander noch nicht ganz", sagte er auf meine Frage.

Wir schweigen einen Augenblick. Ich kann dennoch den Film nicht genießen, weil meine Gedanken sich nur mit ihm beschäftigen.

Plötzlich fühle ich seine Hand an meinem Oberschenkel. Ich beginne zu verstehen... Nun, noch nie hat ein Erwachsener mit mir über sexuelle Dinge gesprochen, aber zum Glück las ich in meinem Biologielehrbuch die interessantesten Kapitel, die meine Lehrerin im Unterricht ausgelassen hatte, so gründlich, dass ich weiß: Er ist schwul, und ich kenne sogar den Fachausdruck: homosexuell.

Irgendwann, als ich sechs oder sieben Jahre alt war, warnte meine Mutter mich vor sogenannten lieben Onkels, die auf der Straße Kinder ansprechen und ihnen Bonbons oder ein Stück Schokolade versprechen. "Steig ja nie in ihre Autos", sagte Mama. Aber sie erklärte mir nicht warum. Sind diese lieben Onkels vielleicht Menschen wie Erik, und werde ich nun, mit 16 Jahren, ein Opfer eines solchen? Ich schaue verärgert in Eriks Gesicht und verlange von ihm eine Erklärung, eine Entschuldigung...

"Ja, ich bin bi ", sagt Erik. "Ich bin sowohl-als-auch, ich habe eine Frau und drei Töchter. Aber nun habe ich mich in dich verliebt."

Ich schweige.

"Hat sich bis jetzt nie ein Mann in dich verliebt?", fragt er und tut so, als wäre er verwundert.

"Niemals."

"Es wird noch oft vorkommen, dass sich ein Mann in dich verliebt. – Verstehst du nun, warum ich von gemeinsamen Interessen sprach?"

"Ja."

"Und – haben wir nun welche?"

"Nein, wir haben keine. Ich bin normal..."

"Hoffentlich nimmt er nun seine Hand von meinem Oberschenkel", denke ich. Aber nein – er macht weiter:

"Das macht nichts... Ich fahre oft nach Paris, dort kenne ich ein paar sympathische Mädchen, die sehr gern mit dir etwas machen würden..."

Er neigt sich zu mir und spricht fast flüsternd, und ich fühle, dass wir nun über etwas Geheimes, Vertrauliches sprechen... "Hast du's schon mal mit einem Mädchen gemacht?"

"Nein..."

"Aber würdest du es gern tun...?"

Wir lächeln ein wenig, aber ich finde selbstverständlich sein Angebot etwas seltsam...

"Ich reise viel aus beruflichen Gründen", fuhr er fort. "Du kannst mit mir nach München, nach Wien, nach London oder... nach Paris fahren. Gibt es keine Stadt, die du nicht schon seit langem besuchen möchtest?"

"Nein."

"Trotzdem, das wäre eine gute Gelegenheit. Du brauchst nicht einmal Geld, im Gegenteil, ich kann dir etwas geben, du weißt ja, ich habe zuviel..."

"Ich kann nicht einfach von meinen Eltern weggehen – und will auch nicht."

"Trotzdem, ich denke, ich könnte dir nachher bei unserem Abschied etwas geben, einen Hunderter... du kannst ihn sicher brauchen, nicht wahr?"

"Ich weiß nicht..."

Inzwischen streichelt er meinen Oberschenkel, indem er genussvoll seine Hand von dessen oberem Teil bis ans Knie schiebt und zurück.

"Ich nehme nicht gern Geld von einem Fremden an", denke ich. "Doch wenn man auf diese Art etwas Geld verdienen kann – nein, es ist ein widerlicher Gedanke..."

Während die Gedanken in meinem Kopf noch keine klare Entscheidung oder Reaktion zustande gebracht haben, legt er seine Hand zwischen meine Beine. Ich bewege mich weg von ihm bis zum rechten Teil meines Sitzes und lege mein linkes Bein über das rechte.

"Nein, lass mich, bitte, spiele mit!", sagt Erik, aber ich fühle bereits Ekel und sehe ihn wieder verärgert an.

"Ich muss mal auf die Toilette", sagt Erik, und geht weg. Ich fühle mich erleichtert, denn so gewinne ich etwas Zeit zum Nachdenken.

Ich habe den Film noch nicht gesehen, sondern denke an Erik und warte auf seine Rückkehr. Ich warte 5, 10, 15, 20 Minuten – aber vergebens. Schließlich verstehe ich: Wahrscheinlich hat er Angst, ich könnte ihn an die hundert Mark erinnern... Ich fühle mich getäuscht, obwohl ich wahrscheinlich dieses Geld nicht einmal angenommen hätte.

Obwohl der Film noch nicht zu Ende ist, beschließe ich, das Kino zu verlassen. Ich atme wieder frische Luft, lasse die warmen Sonnenstrahlen auf mich wirken; ich fühle mich nun ein wenig erfahrener, ein wenig erwachsener. In meinem Kopf bleibt das Kompliment "Es wird sich noch oft ein Mann in dich verlieben", aber ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder traurig sein soll.

 

* * *

 

Alles bleibt wie es war. Noch zwei Jahre und ich habe das Abitur und kann mit dem Studium beginnen; ich werde dann nicht mehr bei meinen Eltern wohnen.

 


II

 

Ich fange an zu studieren. Ein neuer Abschnitt meines Lebens hat begonnen. Ich habe Mathematik gewählt. Weder Philosophie, noch Psychologie, noch Soziologie. Mit dem Ziel Lehrer zu werden, aber Mathematiker mit Diplom. Die beste Chance, einen Arbeitsplatz zu bekommen, ist wahrscheinlich in der Wirtschaft. Aber es kommen Zweifel auf: Bedeutet das, dass ich nur ein kleines Rad im Mechanismus der Wirtschaft werde? Meine innere Lebhaftigkeit, meine Neigung zu Rebellion, mein Suchen nach Sinn, nach Liebe – wird sich dies alles nicht mehr weiterentwickeln, sondern untergehen?

Ich habe eine etwas entferntere Stadt gewählt: Stuttgart. Allein stehe ich in einer neuen Umgebung. Früher habe ich immer abgestritten, wenn einer sagte, Mathematiker seien schweigsam und kaltherzig. Denn ich wollte nicht, dass man mir diese Eigenschaften zuschreibt. Aber nun bin ich selbst unter Mathematikstudenten. Zusammen mit 300 anderen Menschen sitze ich in einem großen Hörsaal bei einer Vorlesung über Algebra.

Ich spreche einen Studenten neben mir an: "Hast du die Hausarbeiten schon gemacht?" – "Ja", antwortet er, "sie sind leicht!" Und wir schweigen. Ich weiß nichts mehr zu sagen und denke über eine Antwort nach: "Wahrscheinlich hoffst du nun, dass ich die Arbeiten schwierig finde und daraus schließe, dass du ein intelligenter Mensch bist, denn für dich sind sie ja leicht. Aber ich habe dich nicht gefragt, um zu erfahren, wie intelligent du bist, sondern um vielleicht mit dir zusammenzuarbeiten. Du hast doch gehört, dass unser Professor uns empfohlen hat, diese Aufgaben zusammen zu lösen. Außerdem mag ich diese Anonymität nicht, ich suche Freunde in meiner neuen Umgebung... " Ich schweige weiter, bin traurig über den eben missglückten Versuch, mit jemand Bekanntschaft zu schließen.

An einem Sonntag abend gehe ich zur katholischen Studentengemeinschaft, um zusammen mit ungefähr 50 weiteren Studenten am Gottesdienst teilzunehmen und anschließend am gemeinsamen Abendessen. Dort habe ich den Mut, einen neben mir sitzenden Studenten anzusprechen: "Was studierst du?" – "Woher kommst du?" – "Wie heißt du?" und – Ende. Ich merke, dass mir noch die Fähigkeit fehlt, ein Gespräch so fortzusetzen, dass sich daraus eine interessante Unterhaltung entwickelt. Dann sitze ich weiter, esse weiter und fühle mich wie in der Mensa, wo ich mich immer frage, ob es möglich ist, ob es sich gehört, jemanden anzusprechen.

Zu Hause beginne ich, einen Brief an Veronika zu schreiben:

 

Liebe Veronika,

wenn ich Dir schreiben würde, dass mir hier in meiner neuen Umgebung alles sehr gefällt, würdest Du das wahrscheinlich glauben. Ich fühle mich sogar irgendwie verpflichtet, Dir dies zu schreiben, denn ich weiß, Du freust Dich, wenn Du erfährst, dass es mir gut geht...

Doch ich streiche diese Sätze wieder durch und entschließe mich, ihr nicht zu schreiben. Ich erinnere mich, dass mir einmal jemand gesagt hat, Studentenjahre seien die schönsten Jahre des Lebens. Es war jemand, der selbst nicht studierte...

Traurig gehe ich ins Bett, das weiße Bärenkind, das Plüschtier, in meinen Händen...

 

* * *

Am kommenden Tag entschließe ich mich, die psychologische Beratungsstelle meiner Universität anzurufen. Schon lange wollte ich erfahren, ob meine Schwierigkeiten, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, nur ein "normales" Problem sind, oder ob ich vielleicht psychisch krank bin. Ich gehe in eine Telefonzelle, um einen Termin für ein Beratungsgespräch auszumachen... dann entscheide ich mich aber, das Vorhaben bis morgen zu verschieben, um erst ein paar Sätze über den Grund meines Anrufs zu formulieren.

Und tatsächlich, am Tag darauf, gut vorbereitet, habe ich den Mut zu telefonieren.

"Psychologische Beratungsstelle der Universität Stuttgart", meldet sich eine Frauenstimme.

"Ich hätte gern einen Termin für ein Beratungsgespräch", sage ich. Nach einer kurzen Pause fragt die Frauenstimme: "Passt Ihnen der übernächste Donnerstag, um 14.00 Uhr?"

"Ja, einverstanden."

"Ihr Name?"

"Manfred Brinkmann."

"Also, gut. Auf Wiederhören, nächste Woche Donnerstag!"

"Auf Wiederhören!"

Ich fühle mich etwas erleichtert deswegen, weil sie mich überhaupt nicht nach den Hintergründen gefragt hat, derentwegen ich um ein Gespräch gebeten habe. Ich habe mir also umsonst Notizen gemacht.

Am betreffenden Donnerstag komme ich genau um 14.00 Uhr in der Beratungsstelle an. "Es ist bei Frau Gerke, Zimmer 103, im ersten Stock", sagt mir die Frau an der Anmeldung. Ich finde sofort die richtige Türe. "Dipl. Psych. Johanna Gerke", lese ich daneben. Zum Glück muss ich hier nicht mehr fürchten, nervös zu sein. Ich klopfe an...

"Ja, herein!"

"Guten Tag", sage ich nach dem Eintreten, als ich eine ca. 40-jährige Frau erblicke.

"Guten Tag."

"Ich bin Manfred Brinkmann. Ich habe ein Gespräch um 14.00 Uhr."

"Ja. Nehmen Sie Platz!". sagt sie, und zeigt auf den Armsessel. Sie selber setzt sich drei Meter entfernt mir gegenüber.

Es herrscht Schweigen. Frau Gerke schaut mich an, als ob sie von mir etwas erwarte. Nach ein oder zwei Minuten, die mir unendlich lange vorkommen, fange ich an: "Ich bin gekommen, weil ich Probleme habe, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Ich bin neu hier in Stuttgart; ich habe eben mit dem Studium begonnen..." Als ich merke, dass sie mich nicht gern unterbrechen will, fahre ich fort: "Es stört mich, dass ich in Vorlesungen und in der Mensa allein sitze. Ich habe Angst, andere Menschen anzusprechen, und Schwierigkeiten, Gespräche so fortzusetzen, dass sie interessant werden."

Wir schweigen wieder. Ich halte nicht gern Monologe. Ein bestätigendes "Ja" könnte sie doch sagen. Ich schweige weiter, in der Erwartung, dass sie schließlich etwas sagt.

Und tatsächlich: "Ich kenne Sie ja überhaupt noch nicht. Sie können zum Beispiel erzählen, was Sie studieren, wie Sie wohnen, ob Sie Geschwister haben..."

"Ich studiere Mathematik, wohne allein, privat. Und ich habe drei Brüder. Einer ist älter als ich und studiert Chemie; die anderen zwei wohnen noch bei meinen Eltern in der Nähe von Warburg in Ostwestfalen. Meine Beziehungen zu meinen Eltern sind nicht so gut. Es fehlt echtes Vertrauen. Ich liebe ja irgendwie meine Mutter, aber meinen Vater weniger. Ich wurde geschlagen..."

Wieder herrscht Schweigen. "Es wäre nicht gut, wenn ich jetzt Fragen stellen würde. Sie müssen überlegen, was Sie sagen wollen. Gerade das wollen Sie doch lernen."

Ich überlege also und fahre fort: "Und nun habe ich mich fast von meinen Eltern getrennt. Ich besuche sie vielleicht noch einmal im Monat übers Wochenende. In den Ferien wahrscheinlich öfters. Aber leider hatte ich bis jetzt noch keinen rechten Erfolg, Freunde in meiner neuen Umgebung zu finden. Weder auf der Universität, noch in der katholischen Studentengemeinschaft, wo ich gelegentlich hingegangen bin."

Plötzlich fängt sie an zu sprechen: "Sie sind also das zweite Kind in der Familie?"

"Ja."

"Überlegen Sie: Wenn das erste Kind in einer Familie ein Junge ist, wünscht die Mutter, dass das zweite ein ... Mädchen wird. Sie behandelte Sie also wie ein Mädchen, indem sie Ihnen alle Entscheidungen und Initiativen abgenommen hat."

Ich bin überrascht. Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht. Ja, tatsächlich, Mama liebte mich immer ein bisschen mehr als meine Brüder. Papa ließ sie sogar meinen Namen aussuchen...

Obwohl nun, wenigstens aus der Sicht von Frau Gerke, alles klar ist, ist unser Beratungsgespräch noch nicht zu Ende. Im Gegenteil, Frau Gerke fängt ein neues Thema an:

"Wahrscheinlich fehlt Ihnen eine Freundin."

"Ja", sage ich, und denke: Wie scharfsinnig! Aber die meisten Menschen haben nicht einmal das bemerkt. Keiner interessiert sich ernsthaft dafür, ob ich wirklich glücklich bin...

Und plötzlich beginnt sie, mich lebhaft zu fragen: "Sehen Sie gerne pornographische Filme?"

"Nein, eigentlich nicht..."

"Masturbieren Sie?"

"Hm", sage ich, und überlege, ob nur einfache Erregung mit Hilfe der Hand Masturbation ist, was ich eigentlich kaum mache, oder vielleicht auch andere, schönere Gewohnheiten...

"Wie?"

Ich schweige und überlege, wie ich meine Antwort formulieren soll...

"Irgendwie muss es ja herauskommen", fuhr sie ermunternd fort und fragt: "Woran denken Sie, wenn Sie masturbieren?"

Ich zögere wieder, aber schließlich habe ich den Mut etwas zu sagen, was ihr vielleicht nicht gefällt: "An Mädchen."

"Aha", sagt sie, und scheint etwas zufriedener zu sein als vorher. "Aber es ist schwierig für Sie, darüber zu sprechen. Wie hat man Sie sexuell aufgeklärt?"

"Ich las ein Kapitel in meinem Biologielehrbuch."

"Aha."

Wir schweigen wieder. Endlich sagt sie: "Es ist nun Zeit, zu einem Schluss zu kommen. Also, wünschen Sie eine Therapie?"

"Ich weiß nicht. Ich kann das ja nicht beurteilen."

"Aber es ist Ihre Entscheidung."

"Trotzdem, ich kam hierher, um von Ihnen zu erfahren, ob eine Therapie angebracht ist. Was halten Sie also davon?"

"Nun... ich denke, dass Sie sich noch nicht genügend im Klaren darüber sind, was Sie eigentlich wollen. Deswegen ist eine Therapie nicht empfehlenswert. Außerdem meine ich, dass Sie bei Ihrer Selbständigkeit und Denkweise Ihre Probleme selbst mit Erfolg überwinden könnten."

Über diese Worte habe ich mich gefreut. Aufmerksam höre ich einigen Ratschlägen von ihr zu: "Sie müssen sich erst an Ihre neue Umgebung gewöhnen. Gehen Sie weiter in die Studentengemeinschaft, nehmen Sie dort an Arbeitsgruppen teil. Und versuchen Sie, in der Universität Kontakte zu knüpfen. Und wenn Sie vielleicht in ein paar Monaten klar wissen, was Sie wollen, oder von neuem irgendwelche Probleme haben sollten, rufen Sie an. Sagen Sie, dass Sie ein Gespräch mit Frau Gerke wünschen."

"Gut", sage ich und verabschiede mich.

Obwohl ich nach ihrer Meinung das Recht habe, über alles selbst zu entscheiden, fühle ich mich doch sehr am Boden. Ich erinnere mich an ihre Ratschläge und fürchte, dass sie mir nicht viel helfen werden. Das hätte mir auch meine Großmutter sagen können... abgesehen von dem Satz: "Irgendwie muss es ja herauskommen." Ob diese Ermutigung helfen wird? Zum Glück fühle ich mich nicht enttäuscht, denn ich ging hauptsächlich aus Neugierde hin und nicht, weil ich dachte, dass so ein Gespräch mein Leben ändern könnte.

Ich denke immer noch an ihre Theorie, meine Mutter habe mir alle Entscheidungen und Initiativen abgenommen. Das hat mich so sehr überrascht, dass ich ihr nicht widersprach. Doch ich bin nicht faul, sondern ängstlich. Die Mitteilung, dass ich geschlagen wurde, hat sie überhaupt nicht interessiert...

Wird es mir gelingen in meiner neuen Umgebung genügend Kontakte zu finden, trotz der Erfahrung, dass offensichtlich auch die Psychologie mir nicht weiterhelfen kann?

 

* * *

Fast ein Jahr nach meinem Studienbeginn stelle ich fest, dass sich nicht viel geändert hat. Ja, ich bin manchmal in einer Gruppe von vier oder fünf anderen Studenten, wir lösen zusammen unsere Hausaufgaben. Zwei oder drei Mal waren wir sogar zusammen im Schwimmbad. Doch bin ich noch relativ oft allein.

An einem Samstag morgen sehe ich in der Stadtbibliothek einen Anschlag: "Deutsch-französisches Jugendtreffen in Ludwigsburg". Die Einzelheiten scheinen interessant zu sein: 5000 Jugendliche aus der BRD und Frankreich treffen sich im Schloss Ludwigsburg anlässlich des 25. Jahrestages der Rede Charles de Gaulles am selben Ort. In dieser Rede war de Gaulle für Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen den ehemals feindlichen Staaten Deutschland und Frankreich eingetreten und hatte die Jugend eingeladen, sich dafür einzusetzen. Und jetzt werden Kohl und Chirac eine Rede halten; Jugendvereine werden Informationsstände aufstellen...

Ich schaue aufs Datum: Heute! Beim Verlassen der Bibliothek bemerke ich das herrliche spätsommerliche Wetter. Und ich stelle fest, dass ich bis jetzt noch nie das Schloss Ludwigsburg gesehen habe, noch Kanzler Kohl, noch Präsident Chirac. Auch hatte ich noch nie wirklich Gelegenheit, meine Kenntnisse der französischen Sprache anzuwenden.

Ich mache mich auf mein Fahrrad und erreiche in eineinhalb Stunden die Stadt Ludwigsburg, wo eine große Zahl von Plakaten, Fahnen und Transparenten das Ereignis ankündigen. Ich parke mein Fahrrad, gehe in den Schlosshof und sehe dort tausend, wenn nicht gar mehrere Tausend Menschen. Am Rande dieses Hofes stehen zehn Informationsstände, von denen fast die Hälfte verlassen aussieht.

An einigen Ständen sehe ich Angebote, die mir günstig erscheinen: zwei Wochen Sprachferien in Frankreich für nur 1200 Mark... Auf einmal erblicke ich einen interessanteren Stand: "ESPERANTO – DIE INTERNATIONALE SPRACHE", lese ich, geschrieben in weißen Buchstaben auf einem grünem Band, und gehe dorthin. Schon bevor ich den Stand erreicht habe, drückt mir ein Junge ein orangefarbenes Flugblatt in die Hand mit dem Titel: "Verständigung ohne Grenzen". Ich wundere mich, denn bis jetzt dachte ich, Esperanto sei nur ein Hobby für größtenteils ältere Menschen, aber nichts Ernsthaftes. In einer Fernseh-Nachrichtensendung sah ich einmal einen kurzen Bericht über einen Esperanto-Kongress, und irgendwann habe ich oberflächlich einen Artikel in einer Zeitung gelesen über diese Sprache, mit einem Foto von dem alten Mann mit Bart, der sie erfunden hat.

Aber ich sehe, wie eine Gruppe junger Leute sich lebhaft für diese Sprache einsetzt... muss also eine interessante Sache sein. Ich beobachte den Stand aus einer gewissen Entfernung, sehe einige Bücher und Zeitungen, beschließe aber, erst mal ein wenig zurückzugehen und das Flugblatt durchzulesen. Ich lese etwas über internationale Jugendtreffen, auf denen man nur Esperanto spricht, und erfahre etwas über die Sprache selbst: dass sie eine einfache Grammatik hat ohne Ausnahmen und ein Wortbildungssystem; sie ist also leicht zu lernen. Ich stelle mir vor, dass diese Sprache eine gute Lösung sein könnte für das Sprachenproblem in der Welt. Wenn dem aber so wäre, warum wird sie noch nicht in größerem Umfang unterrichtet? Wenn es aber nicht so ist, warum setzen sich dann diese jungen Leute so begeistert für sie ein? Wahrscheinlich ist diese Sprache einfach noch nicht bekannt genug. Zum Beispiel wusste ich bis jetzt fast nichts über sie.

Ich gehe wieder näher an den Stand heran und schaue mir die Titelseiten der Bücher, Zeitungen und Lehrbücher an, die dort liegen. Auf einmal spricht mich ein Mädchen an, das hinter dem Stand steht: "Esperanto ist eine Sprache, die man überall in der Welt spricht, sie ist leicht zu lernen und vielseitig anwendbar. Wir gebrauchen sie auf internationalen Jugendtreffen, und es gibt eine Liste, mit der du bei Leuten in 54 Ländern kostenlos übernachten kannst..." Und sie zeigt mir ein grünes Adressbuch, das ich kurz durchblättere mit einem besonderen Augenmerk auf die Landkarten am Ende des Buches.

Schließlich sagt sie etwas in dieser Sprache zu einem schwarzhaarigen, der neben mir steht. Dieser spricht mich an und fragt mich auf Französisch, ob ich Französisch verstehe. "Ein wenig", antworte ich in der selben Sprache, und wir unterhalten uns etwas über unsere Namen, Wohnorte und später über Esperanto. Da ich meine Schwierigkeiten, mich auf Französisch auszudrücken, sehe, sage ich: "L' Espéranto est plus facile", und wir lächeln ein bisschen. Neidisch sehe ich zu, wie fließend das Mädchen hinter dem Stand sich mit diesem Franzosen unterhält.

Plötzlich versammelt sich eine Masse Menschen an einer Seite des Schlosshofs, und bei näherem Hinsehen verstehe ich warum: Es beginnen die Reden der Politiker. Helmut Kohl, der Bundeskanzler, schreitet aufs Podium und beginnt mit seiner Rede. Er fasst stolz zusammen, was bisher auf dem Gebiet der deutsch-französischen Freundschaft erreicht wurde und fährt fort:

"Eines Tages werdet ihr, die ihr heute vor den entscheidenden Wendepunkten eures Lebens steht, von euren Kindern gefragt, wie ihr die vorige Generation fragt: 'Was habt ihr für Europa getan, für das Europa der Bürger?'" Und er betont diese letzte Frage so sehr, dass ich beinahe, wegen des etwas komplizierten Zusammenhangs, den Faden verliere, und ich betrachte sie als provozierenden Ansporn, etwas in dieser Richtung zu tun. Ich stelle auch fest, dass konkrete Anreize für uns junge Leute bis jetzt in der Rede von Kohl vollständig fehlten. Vielleicht kommen sie ja noch... Und tatsächlich, Kohl beginnt, seine Ideen zu konkretisieren:

"Aber letzten Endes ist es eine Sache der Jugend selbst – es ist eure Sache, die Chance der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu nutzen. Dazu gehören besonders auch die Sprachkenntnisse. Miteinander umgehen ist viel, aber sich verstehen ist mehr. Daher bitte ich euch, lernt die Sprache des anderen! Heute hat jeder junge Mensch die Möglichkeit, in Deutschland Französisch zu lernen und in Frankreich Deutsch – sei es in der Schule oder in Bildungseinrichtungen für Erwachsene. Nehmt diese Chance wahr! Die Sprache ist der Schlüssel für das Verständnis der kulturellen Identität. Sie ist die Brücke, die das Verstehen der Gedanken, Gefühle und Handlungen anderer Menschen möglich macht."

Also die Zuhörer werden nun dem Aufruf "Lernt die Sprache des anderen!" Folge leisten und die deutsch-französische Freundschaft gedeiht – dank Kohl. Alles ist so einfach... Doch das Engagement dieser jungen Leute gefällt mir mehr als die Ratschläge von Kohl. Ich habe ja selbst Französisch gelernt von der siebten bis zur zehnten Klasse, und obwohl ich kein schlechter Schüler war...

Nun geht Jacques Chirac aufs Podium. "Vielleicht hat er ja mehr zu sagen", denke ich. Ich höre ihm aufmerksam zu, oder besser: seiner Dolmetscherin, die nach jedem Satz übersetzt. Auch er spricht von der Wichtigkeit der deutsch-französischen Freundschaft: "Die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland auf dem Gebiet der Sicherheit wird eine entscheidende Rolle spielen beim Entstehen einer wahren europäischen Verteidigungsmacht. Deswegen nahmen wir mit Interesse die Initiative von Kanzler Kohl an betreffs einer eventuellen deutsch-französischen Brigade..."

Traurig stelle ich fest, dass sich die ganze Rede Chiracs mehr oder weniger um militärische Zusammenarbeit dreht, als ob die deutsch-französische Freundschaft nur deswegen wichtig wäre, damit im nächsten Weltkrieg mehr Russen getötet werden können. Im Vergleich zu dieser Rede ist mir die von Kohl lieber, denn diese letzte war wirklich inhaltslos. "Die Idee, sich für das Europa der Bürger einzusetzen, ist ja gut", denke ich, und ich gehe wieder zurück zum Esperanto-Stand. Ich informiere mich über die Möglichkeit, diese Sprache zu lernen und kaufe ein Lehrbuch. Ich will zu ihnen gehören, will einer von denen sein, die diese interessante Art der internationalen Verständigung anwenden...

Zufrieden fahre ich nach Hause und schon am selben Abend fange ich an, mit Begeisterung diese Sprache zu lernen.

 


III

 

Ein Jahr später spreche ich schon fließend Esperanto. Weit öffnet sich mir eine neue, unbekannte Welt. Ich habe an internationalen Jugendtreffen teilgenommen und ich wurde aktiv für diese Sprache, was mir das gute Gefühl gibt: ich werde gebraucht, und mein Leben hat einen Sinn. Ich begann, viel Zeit in Esperanto zu investieren, obwohl mein Studium darunter etwas leidet. "Es gibt genug Mathematiker", denke ich, "aber zu wenig Menschen, die für Esperanto aktiv sind."

Meine anfängliche Vermutung, man müsse Esperanto nur etwas bekannter machen, und die Sache läuft, erwies sich als falsch. Das bemerkte ich, als ich einen Esperanto-Kurs in der katholischen Studentengemeinschaft angeboten habe. Obwohl ich der dringlichen Empfehlung eines erfahrenen Gruppenmitglieds folgte, ich solle bei der Werbung hauptsächlich den praktischen Wert von Esperanto erwähnen, kamen nur fünf Personen. Zwei von ihnen kamen schon am zweiten Abend nicht mehr, und auch die anderen waren weniger begeistert, als ich erwartet hatte. Trotzdem sind meine Bemühungen sicher nicht umsonst; Stefanie, zum Beispiel, macht beim Lernen ausgezeichnete Fortschritte. Leider will sie in unserer neu gegründeten Jugend-Esperanto-Gruppe nicht Mitglied werden, aber vielleicht ist das auch nicht so wichtig. Ich freue mich, als sie an einem Samstag nachmittag im November an unserer Gruppenversammlung teilnimmt.

Ein Dutzend Esperantisten hat sich um den Wohnzimmertisch von Familie Jung versammelt. Außer Bernd und Gisela Jung, dem Gastgeberehepaar, und ihrem Söhnchen Udo sind ein paar Aktive da, ein paar "normale" Esperantisten und ein paar ewige Anfänger. Ich sehe unter anderem Anja, die schon als Kind angefangen hat, Esperanto zu lernen, Stefanie, meine beste Kursteilnehmerin, und Thomas – ein 16-jähriger Schüler, der die Sprache in einem Autodidakt-Kurs gelernt hat. Zu unserer Freude ist auch Georg da – ein ehemaliger Aktiver, der seit dem Internationalen Jugend-Kongress (IJK) in Eringerfeld fast ganz aufgehört hat, sich mit Esperanto zu beschäftigen.

Wir essen Kuchen, trinken Kaffee und Tee und unterhalten uns auf Deutsch über Esperanto und über alles Mögliche. Ich fühle mich wohl in dieser Atmosphäre. Plötzlich stellt Georg, der zum letzten Mal vor drei Jahren in dieser Gruppenversammlung war, die Frage: "Ich würde gerne wissen, ob ihr glaubt, dass Esperanto einmal die zweite Sprache für alle sein wird."

Als erster fängt Bernd an zu sprechen: "Esperanto wird sich sicher in den nächsten fünfzig Jahren nicht durchsetzen. Sogar der österreichische Präsident Jonas und der jugoslawische Präsident Tito waren Esperantisten. Und weil es denen nicht gelang, Esperanto einzuführen, sehen wir, dass dies von unten her geschehen muss. Und das kann lange dauern, wenn es überhaupt so weit kommt."

Dann sagt Anja ihre Meinung: "Ich glaube nicht, dass einmal alle Menschen Esperanto sprechen werden. Schon seit mehr als hundert Jahren existiert es, und wieviel Menschen sprechen es? Ich denke, dass dies auch gar nicht wünschenswert wäre, denn unsere Gemeinschaft wird ganz verschwinden."

Schließlich antwortet Georg selbst auf seine Frage: "Ich glaubte mal, dass Esperanto eine bedeutende Sache sei. Aber heute denke ich, dass Esperanto nicht siegen wird und nur ein Hobby sein kann. Eine Esperanto-Gruppe ist nicht mehr als ein Kegelklub."

Ich schweige. Mitleidig schaue ich auf Thomas. "Ich weiß, dass auch du Esperanto aus Idealismus gelernt hast. Denn auch du träumst von einer schöneren Welt. Ich hoffe, dass diese Aussagen dich nicht verwirren. Du lernst diese Sprache gegen den Willen deiner Eltern, und es scheint, dass sogar viele Esperantisten dir nicht die Ermutigung und Unterstützung geben, die du brauchst. Mich kann nichts mehr ins Wanken bringen, denn ich habe selbst erfahren, dass mir Esperanto eine Verständigung auf höherem Niveau ermöglicht als die anderen Sprachen, die ich in der Schule gelernt habe. Aber du konntest diese Erfahrung noch nicht machen... Die Gedanken von Bernd, Anja und Georg sind seltsam, ja sogar gefährlich, denn sie hindern die Welt an einer wünschenswerten Entwicklung. Es ist ganz legitim zu glauben, dass der Wahnsinn ein Ende nimmt – der Wahnsinn, dass man in der internationalen Kommunikation gewöhnlich nicht das am besten geeignete Verständigungsmittel verwendet..."

Während ich diese Gedanken zum Ausdruck bringe, bemerke ich, dass Stefan und Susanne kommen, und sofort fangen wir an, über andere Dinge zu reden.

Stefan brachte seine Gitarre mit, und nach dem Kuchenessen beginnen wir, Esperanto-Lieder zu singen. Ich liebe es, mit anderen Menschen zusammen zu sein und zu singen; vielleicht in einer internationalen Runde auf einem Esperanto-Treffen sogar ein bisschen mehr als hier. Bevor ich Esperanto zu lernen begann, erlebte ich nie eine so angenehme Atmosphäre, in der Jugendliche zusammen sitzen und singen, begleitet von einer Gitarre... Irgendwann am späten Abend ist die Versammlung zu Ende. Ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause, zusammen mit Stefanie, die während der Diskussion über die Zukunft von Esperanto geschwiegen hat, genau wie ich. Sie ergreift das Wort und sagt: "Selbstverständlich finde ich Esperanto interessant und das Treffen war wirklich nett. Aber die Worte 'Bewegung' und 'Esperantisten' machen mich skeptisch. Ich will mich eurer Jugendgruppe nicht anschließen, selbst nicht in der Kategorie ohne Beitrag. Verstehst du das?"

"Ja, ich verstehe das. Und ich akzeptiere das auch." Aber ich merke sofort, dass ihre Aussage ganz klar meinen Ansichten entgegensteht. Nach unserer Verabschiedung überlege ich, was ich ihr am liebsten noch gesagt hätte: "Trotzdem sehe ich das alles etwas anders als du. Du hattest anscheinend eine glückliche Kindheit und nun bist du mit der Welt zufrieden, so wie sie ist. Du bist hilfsbereit, du bist fähig, Mitleid zu empfinden. Aber du willst die Welt nicht verändern; das Thema 'Sprachprobleme' berührt dich nicht so tief, als dass es dich anspornen könnte, dich dafür einzusetzen. Gedanken, welche die ganze Welt betreffen, interessieren dich nicht..." Aber Stefanie ist wahrscheinlich schon zu Hause.

Ich überlege, ob ich vielleicht schon oft meine wahren Gedanken unterdrückt habe, indem ich schwieg oder etwas anderes sagte... Aber ich erinnere mich an den Ausspruch von Anja, die sagte, dass sie "keine Zeit" habe, um an unserem Informationsstand in der Innenstadt mitzuarbeiten, sogar unabhängig vom Datum. Aber ich weiß, was diese Worte "Ich habe keine Zeit" bedeuten. Sie bedeuten: "Ich setze mir andere Prioritäten." Sie hat Zeit zum Fernsehen, um in die Diskothek zu gehen; sie hatte damals nur nicht den Mut zu sagen, dass die Verbreitung von Esperanto für sie eine unwichtige Sache sei.

Als Bernd und ich schließlich dennoch den Informationsstand aufstellten, fragte uns eine Frau: "Ich spreche schon Englisch, Französisch und Spanisch. Wozu brauche ich dann noch Esperanto? Was nützt mir das? Bernd betonte den Nutzen von Esperanto, um Menschen in Osteuropa kennenzulernen, und ich schwieg. Erst später hatte ich die Idee, dass ich sie hätte fragen können, ob sie so etwas Ähnliches auch am Stand von amnesty international sagen würde. Würde sie auf die Bitte "Setzt euch für die Menschenrechte ein!" auch antworten "Was nützt mir das?", mit der Begründung, man achte ja ihre Menschenrechte, man foltere sie ja nicht?

Bei diesen Gedanken kommt mir die Frage, ob der Einsatz für Esperanto wirklich eine so edle Sache ist wie das Engagement für die Menschenrechte.

Ich erinnere mich, dass Esperantisten bei der Argumentation für ihre Sprache oft nur ihre Vorteile erwähnen im Vergleich zur englischen – nämlich dass Esperanto neutral und relativ leicht sei. Einige haben sogar genau ausgerechnet, wieviel die Europäische Gemeinschaft Geld sparen könnte mit der Einführung von Esperanto. Doch es ist auch notwendig, gründlicher zu erforschen, auf welche Art die Einführung einer neutralen, relativ leicht erlernbaren Sprache als Zweitsprache für jeden der Menschheit von Nutzen sein kann.

Das würde ja eine Art Revolution bedeuten, nach der sich die internationalen Kontakte vervielfachen werden. Es wird ein dichteres Netz persönlicher Freundschaften über die Grenzen hinweg entstehen, und das wird in vielerlei Hinsicht von Nutzen sein: zur Sicherung des Friedens, für die Beseitigung nationaler Egoismen zu Gunsten des Wohls der ganzen Menschheit und zur gegenseitigen kulturellen Bereicherung. Menschen in Industrieländern werden sich verstärkt solidarisch fühlen mit Menschen in Entwicklungsländern. Es wird eine stärkere Bereitschaft zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit entstehen und bessere Bedingungen, um diese zu verwirklichen zu Gunsten des Wohls der Menschen in heute noch armen Ländern. Es wird ein echter Kulturaustausch stattfinden, und zwar nicht nur in eine Richtung. Moderne westliche Überzeugungen wie die Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder die Aufhebung der Todesstrafe werden leichter z.B. in arabische Länder vordringen, während umgekehrt in unsere etwas kalte, materialistische westliche Gesellschaft wertvolle Anregungen aus anderen Kulturen gelangen werden – zum Wohl der ganzen Menschheit, denn gute, humane Anregungen werden eher angenommen als weniger gute, inhumane. Unmenschliche Überzeugungen, wie z.B. die Legitimität der Folter, haben bei uns kaum eine Chance angenommen zu werden.

Aber die Einführung einer Zweitsprache für alle hätte auch einen weiteren, etwas schwieriger auszudrückenden Vorteil: Es wird die Möglichkeit geben, jedem zu helfen und mit jedem Freundschaft zu schließen. Verschwinden werden die peinlichen Situationen, in denen Menschen sich nicht verständigen können. Das würde eine Anhebung des nichtmateriellen Lebensstandards bedeuten.

Wenn ich daran denke, habe ich den Eindruck, dass sogar viele Esperantisten sich des Wertes ihrer Arbeit nicht ausreichend bewusst sind. Irgendwann, am Anfang meiner Begeisterung für Esperanto, dachte ich, dass ein aktiver Esperantist sicher niemals Selbstmord begehen würde. Sein Leben hat ja einen Sinn, denn er arbeitet für die Verwirklichung einer großen Idee. Später hörte ich von Selbstmorden junger Esperanto-Aktivisten aus Berlin, England, Dänemark und Finnland. Und ich musste feststellen, dass ich vieles übersehen hatte: Der Einsatz für Esperanto kann einen zusätzlichen Stressfaktor im Leben darstellen, und nicht nur die Nicht-Esperantisten, sondern auch viele Esperantisten sind sich nicht hinreichend des Wertes ihrer Arbeit bewusst.

Selbst wenn einer nicht an den zukünftigen Sieg von Esperanto glaubt, müsste er den Einsatz der Esperantisten anerkennen, denn der Einsatz für die internationale Verständigung ist in jedem Falle wertvoll. Aber Georg macht nicht einmal das. Ich denke gerade über ihn nach und erinnere mich, dass er Germanistik studiert, obwohl man fast keine Germanisten mehr braucht. Und er weiß auch nicht, was er später machen will. Er möchte also sicher nicht der Menschheit nützlich sein, sondern studiert, weil dies ein relativ lockerer Zeitvertreib ist. Es ist also nicht zu verwundern, dass er nicht mehr für Esperanto tätig ist. Ihm fehlt wahre Menschlichkeit. Und seine Freundlichkeit ist nur äußerlich; es fehlt ihm wahre Herzensgüte...

Auch Anja ist egoistisch. Wie klein ist der jetzige Beitrag von Esperanto zum Wohl der Menschheit im Vergleich zu dem in einer Zeit, wenn nicht nur einige hundert Millionen, sondern mehrere Milliarden Menschen wirklich von dieser Sprache profitieren werden!

Aber Anja hat irgendwie doch Recht. Gerade heute kann der positive Einfluss von Esperanto auf die Entwicklung einer Persönlichkeit besonders wichtig sein. Ich denke da an mich selbst, erinnere mich an mein erstes Esperanto-Treffen, das Internationale Jugend-Festival (IJF) in Italien. Dorothea, eine junge Polin, lächelte mir dort zu. Ich habe sie dann nur verwundert angeschaut, denn ich konnte nicht glauben, dass dieses Lächeln mir galt. Vielleicht etwas später, als sie wieder lächelte, habe ich es ein bisschen erwidert... ich weiß nicht mehr so genau.

Und auf meinem zweiten Esperanto-Treffen, dem Internationalen Jugend-Kongress (IJK) in Zagreb geschah etwas Seltsames. Kurz nach meiner Ankunft habe ich Gianna, die ich vom IJF her schon kannte, wiedergesehen und begrüßt. Sie hielt mir ihre Wange hin und ich war ganz ratlos. Nach einem Moment der Verlegenheit habe ich sie zaghaft umarmt. Kurz darauf sah ich, wie sie sich von einem anderen Teilnehmer beim Wiedersehen küssen ließ. Hatte sie das gleiche vielleicht auch mit mir vor? Ich zweifelte. Ich fand mich ja so wenig liebenswert. Sie kann mich höchstens deswegen mögen, weil ich Esperanto spreche – aber das kann eine Million weiterer Menschen in Europa auch...

Nach und nach verstand ich, dass die Menschen in der Esperanto-Welt nicht so kalt sind wie in der BRD. Der Kuss bei der Begrüßung und beim Abschied ist einfach eine schöne Geste der Freundlichkeit, die nicht besonders viel zu bedeuten hat. Wahrscheinlich neigen in vielen Ländern die Menschen generell eher dazu, einander zu berühren, zu liebkosen und zu küssen als in der BRD, wo viele Eltern ihre Kinder nur berühren, wenn sie sie schlagen.

* * *

 

Schließlich begegne ich auf einem Treffen in Kiew Johanna – einer Polin aus Breslau, die mir auf den ersten Blick sympathisch ist und... sie lächelt! Jedes Mal, wenn wir einander sehen, erwidere ich etwas mutiger dieses Lächeln. Inzwischen habe ich erfahren, dass sie bald einen Polen heiraten wird. Das hat mich etwas enttäuscht, aber unsere Sympathie ist geblieben. Am letzten Abend genießen wir es ausgiebig, einander anzuschauen. Wir tanzen zusammen nach einer langsamen Musik und fühlen die Nähe und Wärme des anderen... Wir lächeln einander an, und ihr Lächeln weckt in mir Freude, die auch sie wieder erfreut u.s.w. – unsere Freude wird grenzenlos...

 

* * *

 

Nach der Rückkehr von diesem Treffen bemerke ich, dass sich in mir etwas verändert hat. Ich sehe sympathische Menschen nicht mehr ängstlich, sondern lächelnd an. Wahrscheinlich hat mich meine Mutter in meiner frühen Kindheit einige Male angelächelt, und ich habe ihr Lächeln erwidert. Aber später geriet diese meine Fähigkeit in Vergessenheit. Ich habe die Neigung meines Vaters angenommen, andere Menschen mit ernster und skeptischer Miene anzusehen... Aber nun habe ich meine ehemalige Fähigkeit wiedererlangt, dank Johanna.

 

* * *

 

Zwei Wochen später, bei einem Wochenend-Treffen der Esperanto-Jugend Frankfurt, bietet sich mir eine herrliche Gelegenheit, meine wiedererlernte Fähigkeit anzuwenden. Als ich in die Wohnung von Familie Seifert komme, die zu dieser Veranstaltung eingeladen hat, sehe ich zehn junge Leute, die sich um einen großen Tisch versammelt haben. Ich begrüße die bekannten und unbekannten Teilnehmer und schaue entzückt in das Gesicht eines blondhaarigen Mädchens. "Mi estas Manfred", stelle ich mich auf Esperanto vor. "Mi estas Sandra", antwortet sie, und ich freue mich, dass ich ihr gegenüber Platz nehmen kann.

Von Zeit zu Zeit lächle ich ihr ein wenig zu, was sie mit einem freundlichen Blick erwidert. Sie zeigt sich nicht abgeneigt... Dieses Spiel wiederholt sich mehrmals an diesem Tage. Ich liebe kleine Esperanto-Veranstaltungen, an denen wenigstens eine Person teilnimmt, die ich sehr sympathisch finde. Man sieht sie ständig wieder, sitzt in ihrer Nähe oder ihr gegenüber.

Am Sonntag morgen gehen wir zusammen in einen Park, um dort zu spielen. Es herrscht herrliches Frühlingswetter. Unterwegs bin ich angenehm überrascht, als Sandra mich anspricht und mich nach meinem Beruf fragt. Wir unterhalten uns ein wenig über unsere Studienfächer, unsere Wohnorte, unsere Familien, unser Esperanto-Lernen und die Teilnahme an Esperanto-Veranstaltungen. Zum Glück hat sie sich auch schon zum IJK in Kerkrade in zwei Monaten angemeldet...

Nach dem Mittagessen sitzen wir noch ein bisschen zusammen, und ich höre, wie Sandra einer anderen Teilnehmerin erzählt, dass sie schon in einer halben Stunde abreisen muss. Ich lächle sie wieder an – und siehe da... sie hat es wirklich erwidert. Obwohl ihr Lächeln irgendwie gezwungen aussieht, fühle ich mich ziemlich froh und glücklich. Etwas später verabschiedet sich Sandra von uns. "Auf Wiedersehen in Kerkrade!", sage ich nach einer langen Umarmung, ohne traurig zu sein, denn ich habe schon einen Plan...

Zum Glück haben wir eine Teilnehmerliste zusammengestellt und sie kopiert. Gleich nach meiner Rückkehr fange ich an, einen Brief zu schreiben:

 

Liebe Sandra,

jetzt, einige Stunden nach meiner Rückkehr vom Treffen in Frankfurt, tut es mir etwas leid, dass wir zwei uns nur kurz unterhalten haben. Daran bin hauptsächlich ich schuld, denn eigentlich warst ja Du es, die das einzige wirkliche Gespräch zwischen uns angefangen hat. Obwohl es irgendwo tief in mir immer sehr viele Gedanken, Ideen und Gefühle gibt, fällt es mir schwer, andere Menschen anzusprechen und die Unterhaltung so fortzuführen, dass sie lebhaft und interessant wird. Dieses Problem zeigt sich besonders dann, wenn ich nicht nur mit einer anderen Person zusammen bin, sondern mit mehreren in einer Gruppe.

Trotzdem habe ich nun, dank Esperanto, viele Kontakte; ich fühle mich anerkannt und von allen geschätzt. Aber ein großer Wunsch ist bis heute unerfüllt: der Wunsch, eine wirklich sympathische Frau kennenzulernen, ein umfassendes gegenseitiges Vertrauen zu erfahren und zärtlich zueinander zu sein...

In dieser Hinsicht denke ich nun – verzeih mir die Offenheit! – an Dich. Ich finde Dich, Deinen Charakter, Dein Aussehen und Verhalten bezaubernd und charmant. Wahrscheinlich erinnerst auch Du Dich noch an das kurze, doch wunderschöne gegenseitige Lächeln zwischen uns beiden in der Wohnung von Familie Seifert kurz vor Deiner Abfahrt. Für mich ist es die schönste Erinnerung an dieses Treffen. Und obwohl ich noch nicht viel über Dich weiß, denke ich, dass wir aufgrund unserer Interessen und Ansichten sehr gut zusammenpassen...

Ich füge noch viele Erklärungen, Eindrücke, Meinungen, Informationen hinzu... und schließlich fahre ich noch am selben Abend mit dem Fahrrad zum Hauptpostamt, um den letztendlich sechsseitigen Brief aufzugeben. Ich fühle mich weiterhin glücklich. Ich erwarte freudig die kommenden Tage. Alles läuft bestens. Obwohl die Vorlesungen an der Universität langweilig und trocken sind wie vorher, finde ich sie plötzlich angenehm und kann mich sogar ein bisschen besser konzentrieren als zuvor.

Wenn ich von der Universität zurückkomme, leere ich jeden Mittag meinen Briefkasten, und jedes Mal werde ich etwas trauriger, weil sich kein Brief von Sandra darin befindet. Nach einer Woche fühle ich mich schon weit unglücklicher als gewöhnlich. Der Brief war sicher vom Anfang bis zum Schluss freundlich, aber doch hat ihr vielleicht etwas darin nicht gefallen. Wahrscheinlich war ich zu offen.

Ich freue mich nicht mehr, sondern habe Angst, sie auf dem IJK in Kerkrade wiederzusehen. Sie könnte beleidigt, wenn nicht gar ein bisschen wütend auf mich sein. Glücklicherweise fahre ich zuerst auf das Jugendtreffen in Ostrava in Tschechien. Vielleicht werde ich mich ja dort verlieben, und in Kerkrade wird alles nicht mehr wichtig für mich sein...

 

* * *

Ein paar Wochen später nehme ich am Treffen in Ostrava teil. Am ersten Abend freue ich mich, Freunde von früheren Treffen wiederzusehen – darunter einige aus der Sowjetunion, die ich von der Veranstaltung in Kiew her kenne – und lerne neue Menschen kennen. Auf dem Weg von meinem Zimmer auf die Wiese, wo die Spiele zum Kennenlernen stattfinden sollen, begegne ich einem Mädchen, das ich auf den ersten Blick überaus sympathisch finde. Sofort lächeln wir einander zu.

"Guten Tag... Ich bin Manfred aus der BRD."

"Ich bin Beata aus Polen", antwortet sie, und nach kurzem Schweigen erzählt sie: "Ich bin noch Anfängerin... Ich studiere in Breslau."

Dieser Städtenamen erinnert mich sofort an Johanna, mit der ich schon einige freundliche Briefe seit dem Treffen in Kiew gewechselt habe. Aber bevor ich sie fragen kann, ob sie Johanna kennt, spricht Beata schon weiter: "Johanna hat mir von dir erzählt." Ich wundere mich, aber erinnere mich dann, dass ich Johanna ja geschrieben habe, dass ich nach Ostrava kommen werde, wo sie leider nicht teilnehmen kann. Und neugierig, mehr scherzhaft als ernst, frage ich Beata: "Und was hat sie von mir erzählt?"

Beata überlegt lange und antwortet schließlich: "Sie sagte... nur Gutes." Wir lächeln uns wieder an; dann unterhalten wir uns ein bisschen über unsere Studienfächer, unsere zukünftigen Berufe... Aber mit großem Bedauern sehe ich, wie schwierig es für sie noch ist, sich in Esperanto auszudrücken. "Mi lernas Esperanton... tri monatoj.", sagt sie.

In sechs Wochen werde ich in dein Land fahren, erzähle ich langsam. "Wirst du am Treffen in Torun auch teilnehmen?"

"Oh, ja", sagt sie, und ich habe den Eindruck, dass auch sie sich darüber freut, wenn wir uns dort wiedersehen und uns vielleicht schon besser verständigen können...

Nun fangen auf der Wiese die Spiele an, und wir gehen auseinander.

Während der ganzen Woche haben wir uns nicht mehr wirklich unterhalten. Beata verbringt die Zeit zusammen mit anderen Polen, und ich habe genügend Kontakt mit Sowjetrussen, Ungarn, Deutschen aus der DDR und Tschechen. Aber immer, wenn wir uns gegenseitig sehen, lächeln wir einander an – als ob wir beide wüssten, dass dies unsere einzige Möglichkeit sei, freundliche Gefühle auszudrücken, ohne missverstanden zu werden. Ich liebe ihr warmes, von Herzen kommendes Lächeln sehr und freue mich darauf, sie wiederzusehen und mich in Polen richtig mit ihr zu unterhalten. Aber vorher möchte ich sie mit einem Brief überraschen...

Am vorletzten Tag fällt mir ein, dass ich ihre Adresse noch nicht habe. Nach dem Abendessen kommen wir alle zusammen, um ein Gruppenfoto zu machen. Da sehe ich plötzlich eine gute Gelegenheit... Ich gehe zu ihr, hole einen Stift und ein Stück Papier aus der Tasche und frage sie: "Beata, kannst du mir deine Adresse geben?"

"Oh, ja!", antwortet sie freudig, so als wäre dies etwas, was wir unbedingt nicht vergessen dürften. Sie schreibt und gibt mir dann das Stück Papier wieder zurück. Ich gebe ihr einen schon vorbereiteten Zettel mit meiner Adresse, und wir danken einander.

"Ich werde dir ganz sicher schreiben, Beata", denke ich und sehe ihre Freude bei diesem Adressenaustausch. Aber ich ziehe es vor, ihr diese Absicht nicht zu verraten. Zufrieden schaue ich auf ihre Adresse, geschrieben mit schöner, nach rechts geneigter, fließender und gut lesbarer Handschrift. Es war eine gute Idee, sich zum Treffen in Torun anzumelden.

 

* * *

 

Drei Tage später beginnt der IJK in Kerkrade. Sandra wurde mir inzwischen beinahe gleichgültig. Sie ist ja in keiner Weise zu vergleichen mit Beata. Ihre Vorteile sind, dass sie aus Deutschland kommt und näher bei mir wohnt... Aber wichtiger ist ja das Herz der Menschen. Zwei Monate habe ich vergebens auf eine Antwort auf meinen Brief gewartet; zuerst ungeduldig, später wagte ich kaum mehr zu hoffen...

Ich komme am Kongressort an, zusammen mit einer kleinen Gruppe anderer Teilnehmer aus der BRD, die ich zufällig am Bahnhof in Aachen getroffen habe. Und sofort erblicke ich auch schon Sandra. Sie schaut mich freundlich an; sie ist in keiner Weise wütend auf mich! Im Gegenteil! "Guten Tag, Manfred!", sagt sie in einem freudigen, irgendwie begeisterten Ton, als ob sie sich wirklich freuen würde, mich zu sehen. Wir küssen uns kurz, dann begrüßt Sandra ein paar andere Leute und unterhält sich ein wenig mit ihnen.

Ich bleibe in der Nähe und schaue ihnen ein bisschen zu. Als sie schließlich mit der Begrüßung fertig ist, schaut Sandra zu mir. Da sie sieht, dass keiner uns beobachtet, spricht sie mich an: "Ich war ja sehr überrascht, als ich deinen Brief bekam!"

"Wie überrascht?", frage ich sie um zu erfahren, ob sie wenigstens positiv überrascht war.

"Überrascht, weil ich überhaupt nicht damit gerechnet habe, dass du mir schreibst."

"Und wie denkst du über diesen Brief?"

"Ich wollte dir ja eigentlich zurückschreiben. Aber ich hatte damals wenig Zeit. Es ist schwierig, wenn ich das jetzt sage... aber: Ich brauche keinen Freund. Außerdem kenne ich dich ja noch kaum."

"Ja, ich akzeptiere das..."

Wir gehen auseinander. Ihre Worte haben mich nicht besonders traurig gestimmt, denn ich habe mit einer Reaktion, wie ich sie ursprünglich erhoffte, ohnehin nicht mehr gerechnet. Ich fühle mich erleichtert, weil ihre Reaktion wenigstens freundlich war. Noch lange denke ich an ihren Satz: "Ich brauche keinen Freund." Ich verlange nicht, dass du deine eigenen Bedürfnisse und Wünsche vernachlässigen sollst. Aber hoffentlich denkst du auch an die anderen. Es ist nicht nur ausschlaggebend, ob du einen Freund brauchst, sondern auch, ob irgendjemand einen braucht.

Doch diese Gedanken gefallen mir nicht besonders.

 

* * *

 

Nach meiner Rückkehr vom IJK in Kerkrade beginne ich gleich damit, Beata einen Brief zu schreiben. Ich weiß, es ist verhältnismäßig schwierig, einer Person einen Brief zu schreiben, mit der man sich noch wenig unterhalten hat und keine gemeinsamen Erlebnisse teilen kann. Ich kann Beata etwas über mich erzählen; ich kann ihr meine Eindrücke vom IJK in Kerkrade mitteilen. Es ist nicht ratsam, ihr schon jetzt klar zu sagen, dass ich mich sehr gern in sie verlieben möchte. Eine so gut aussehende junge Frau hat ja vielleicht – sehr wahrscheinlich sogar – schon einen Freund in Polen, oder könnte dort leicht einen Freund finden. Sie mag wahrscheinlich auch keine vorübergehenden Liebesbeziehungen für die Dauer eines Treffens, sondern zieht eine dauerhafte, tiefe Freundschaft vor. Eine solche verhindert die Entfernung zwischen der BRD und Polen. Hinzukommt, dass sie sicherlich zu bescheiden wäre, einen Geliebten aus einem reichen Land vorzuziehen...

Ich will also nur ein bisschen durchblicken lassen, dass ich sie sympathisch finde und dass ich keine Freundin habe...

 

Liebe Beata,

nach meiner Rückkehr vom IJK in Kerkrade finde ich nun die nötige Zeit, um meinen Wunsch, Dir einen Brief zu schreiben, zu verwirklichen – einen Wunsch, den ich selbstverständlich schon hatte, als ich Dich in Ostrava um Deine Adresse bat.

In Ostrava haben wir uns ja leider nicht viel unterhalten. Einer der Gründe war vielleicht, dass Du damals noch nicht fließend Esperanto gesprochen hast; aber es gibt noch einen anderen, vielleicht wichtigeren Grund: Wie Du sicher bemerkt hast, bin ich ein sehr ruhiger Mensch. Dieses Problem habe ich schon seit meiner Kindheit und noch heute hindert es mich manchmal ernsthaft daran, Menschen kennenzulernen, die ich sympathisch finde...

Doch im ganzen bin ich relativ zufrieden mit dem Treffen in Ostrava. Wir hatten ja genug lange Gespräche mit anderen (überwiegend gesprächigen) Teilnehmern, und ich fühlte mich daher nicht oft allein. Und Dein wunderschönes, warmes Lächeln gehört zu meinen schönsten Erinnerungen an diese Veranstaltung.

Der folgende IJK hat mir etwas weniger gefallen...

 

Ich schreibe noch ein wenig über den Kongress und über mich, bis ich schließlich den Brief zur Post bringe. Es sind noch vier Wochen bis zu unserem Wiedersehen, und ein Brief von der BRD nach Polen oder umgekehrt braucht gewöhnlich zwei Wochen. Ich werde also von ihr keine Antwort mehr erhalten vor unserem Wiedersehen...

Eine Woche später finde ich in meinem Briefkasten eine Postkarte mit "herzlichen Grüßen aus Breslau". Sie hat also gleich nach ihrer Rückkehr an mich gedacht! Und dann, nach zwei weiteren Wochen, finde ich einen Brief. Hat sie wirklich schon geantwortet? Ich öffne ihn neugierig und fange an zu lesen:

 

Lieber Manfred,

ich habe heute Deinen Brief erhalten. Es war für mich eine sehr erfreuliche Überraschung, denn ich habe Dir nur eine Postkarte geschrieben und bekomme von Dir einen langen und sehr netten Brief. Auch in meinen Augen war der Aufenthalt in Ostrava sehr schön, doch für mich war meine fehlende Sprachkenntnis ein großes Hindernis. Doch nun lerne ich ein bisschen... ein bisschen, denn ich bin nun zu Hause bei meinen Eltern und habe wenig Zeit; sie haben einen großen Garten.

Du schreibst, dass Du ein sehr ruhiger Mensch seist und dass dies ein Problem für Dich darstelle. Aber ich denke, dass viele Probleme oft gar nicht wirklich vorhanden sind. Ich zum Beispiel habe ruhige Menschen gern (und nicht nur ich). Du bist ein etwas schüchterner Mensch, aber mir scheint, dass Du interessant und sehr sympathisch bist. Du kannst leicht mit anderen schüchternen und interessanten Menschen Bekanntschaft schließen. Du siehst also, dass Schüchternheit nicht immer ein Nachteil ist! Sei nicht traurig. Die Welt ist voller Freude, wir nehmen sie nur nicht wahr.

Habe ich Dich ein wenig getröstet?

Ach, es ist ja schon sehr spät! Ich muss nun Schluss machen. Ich fürchte, dass ich leider noch nicht ohne Fehler schreibe. Doch ich rechne mit Deinem Verständnis. Nochmals vielen Dank und – bis zum Wiedersehen

Beata

 

Verwundert lese ich die interessantesten Sätze noch einmal. "Ich zum Beispiel habe ruhige Menschen gern." Niemals habe ich so etwas in Deutschland gehört. Im Gegenteil, hier sagten alle, dass ich mich ändern muss. Sogar meine Mutter, die von der ersten bis zur zehnten Klasse immer zu den Elternsprechstunden ging und immer dasselbe hören musste. Sei es in der Grundschule oder auf dem Gymnasium – die Lehrer sagten immer, dass ich ein guter Schüler sei, aber zu ruhig. Ich müsse lebhafter werden. Und die Klassenkameraden, die mich immer spüren ließen, dass sie nur gesprächige, witzige Menschen gern haben, die etwas zur Stimmung beitragen...

Ich habe erfahren, wie schmerzhaft – weil vergeblich – der Versuch sein kann, seinen Charakter zu ändern. Und nun schreibt diese Polin einfach, dass sie ruhige Menschen gern hat! Sie mag mich so, wie ich bin! Und wie schön ist der Satz "Die Welt ist voller Freude, wir nehmen sie nur nicht wahr!" Bis jetzt sah ich immer nur die negativen Seiten von allem – kein Wunder also, dass ich nicht glücklich bin!

Und mit größtem Interesse lese ich den Satz wieder "Du bist ein etwas schüchterner Mensch, aber mir scheint, dass Du interessant und sehr sympathisch bist." Das ist ein wunderschönes Kompliment. Kann ich daraus sogar schließen, dass sie sich vorstellen könnte, sich in mich zu verlieben, wenn ich den Mut hätte, die nötigen Schritte zu unternehmen? Ich weiß nicht... Aber noch nie hat mir ein Brief so viel Freude gemacht. Sie fasst ihre Gedanken treffend und elegant in Worte; sie schreibt einen besseren Stil, als viele Polen, die schon seit fünf oder zehn Jahren Esperanto sprechen. Die Angst, Fehler gemacht zu haben, lässt mich glauben, dass sie den Brief wirklich ganz alleine geschrieben hat.

Und wie schnell sie geantwortet hat! Doch es bleibt leider nicht genügend Zeit, um zurückzuschreiben. In einer Woche schon werden wir uns wiedersehen. Niemals habe ich mich so auf ein Esperanto-Treffen gefreut!

 


IV

Nach einer fast schlaflosen Nacht im Liegewagen komme ich am Montagmorgen im Bahnhof "Berlin Zoo" an, wo ich umsteigen muss in den Zug nach Polen. Ich dachte, dass es für diesen Zug nicht notwendig sei, einen Sitzplatz zu reservieren. Es ist ja ein Zug ohne Reservierungspflicht, und Ende August fahren wahrscheinlich wenige Menschen nach Polen...

Als ich aber die Menschenmasse sehe, die zusammen mit mir auf dem Bahnsteig auf die Einfahrt des Zuges nach Warschau wartet, bekomme ich ein mulmiges Gefühl. Weil ich an einer günstigen Stelle stehe, kann ich schnell in den Zug einsteigen – und finde etwas Platz im Gang. Aber dieser Platz wird immer weniger... Schon stehen rund fünfzig Polen zusammen mit mir im Gang. Ich sehe, dass viele von ihnen fünf oder gar mehr große Koffer oder riesige Schachteln aus dem Westen mitbringen.

Kurz nach der Abfahrt erreichen wir den Ostberliner Bahnhof "Berlin Friedrichstraße", wo die Passkontrolle stattfindet. "Da kommen wir nicht durch", sagt ein DDR-Zöllner zu seinem Kollegen. Dieser kommt herein, ruft zu mir und den Polen, die neben mir im Gang stehen: "Nach draußen! Alles nach draußen! Mit paszport nach draußen! Bagaz bleibt drinnen!"

Draußen bei der Kontrolle schaut mich ein anderer Zöllner verwundert an, als er meinen BRD-Pass sieht: "Stehen Sie auch im Gang?" – "Ja." – "Dann hätte ich an Ihrer Stelle die Polen hinausgeworfen. Sie haben ja sicher eine Platzkarte!" Das gefällt mir auch nicht so recht, aber zum Glück ist er nicht so unfreundlich.

Ich gehe zurück in den Gang. Irgendwann werden diese Kontrollen verschwinden. Wahrscheinlich werde ich noch die Zeit erleben, wo alles so sein wird wie bei einer heutigen Zugfahrt von der BRD nach Frankreich oder Italien: Gewöhnlich findet da jeder einen Sitzplatz, man braucht kein Visum mehr, und oft muss man nicht einmal den Pass vorzeigen. Aber hoffentlich werde ich mich dann mit meinen fremden polnischen Mitreisenden auf Esperanto unterhalten können...

Noch sechs Stunden bis zur Ankunft in Posen, wo ich wieder umsteigen muss. Neben mir rauchen viele Polen Zigaretten. Trotz der geöffneten Fenster ist der Rauch fast unerträglich. Nur von Zeit zu Zeit gelingt es einem, sich durch den Korridor zu zwängen – um, wenn man am WC ankommt, festzustellen, dass es nicht benutzbar ist, weil es, wohl oder übel, als Gepäckablage missbraucht wird.

Die Unfreundlichkeit, das eingeengte Stehen, der Rauch, das Hin-und-her-gestoßen-werden ist für mich nicht so tragisch. Ich denke an das schöne, warme Lächeln von Beata, an ihren so freundlichen, ja genialen Brief, und ich träume vom Wiedersehen mit ihr. Ich bin jung und gesund. Ich bin fähig, Glück, Zärtlichkeit und Liebe zu empfinden. Nichts ist schöner, als jung zu sein und Esperanto zu sprechen.

 

* * *

 

Abends um acht Uhr komme ich im "Hotel Studencki" an, wo unser Treffen stattfindet. Sofort sehe ich Johanna wieder und ein paar andere Freunde. Ich erfahre, dass unser Haus ein Studentenwohnheim ist, das man in den Sommerferien als "Studentenhotel" benutzt. Und ich lerne einige Polen kennen: "Mi estas Roman" – "Mi estas Andreas", stellen sich mir zwei Polen vor, und nach einem kurzen Gespräch schlagen sie vor: "Du kannst in unserem Zimmer übernachten – o.k.?" – "Ja, einverstanden." – "Sage einfach an der Rezeption, du willst in Zimmer 105 übernachten."

Ich melde mich an der Rezeption und stelle anschließend meine Sachen auf das Zimmer. Im Korridor begegne ich Evelina und Renate, die ich schon vom Treffen in Ostrava kenne. Wir begrüßen einander mit einem kleinen Kuss und lächeln. "Komm in unser Zimmer!", sagt Evelina. Im Zimmer sehe ich David, Isabella und Marek wieder, die ich auch schon auf früheren Treffen kennengelernt habe. "Setz dich zu uns!", sagt Evelina und wir unterhalten uns sofort über meine Reise, über frühere Treffen, über das kommende Internationale Seminar (IS) und alles Mögliche bei einem Glas Tee. Ich fühle mich wohl unter ihnen.

Auf einmal geht die Türe auf und herein kommt... Beata. Ich schaue zu ihr empor und stehe auf. Wir lächeln, begrüßen und küssen uns kurz. Ich bin fröhlicher als vorher, geradezu glücklich.

"Hast du meinen Brief bekommen?", fragt Beata.

"Ja, ich habe mich sehr darüber gefreut!"

"Würdest du jetzt auch gern in die Diskothek gehen?"

"Ja, gerne!", antworte ich und freue mich sehr darauf, in der Hoffnung auf eine Gelegenheit, mit ihr allein zu sein. Eigentlich habe ich Diskotheken ja nicht so gern... Ich verabschiede mich von den anderen und gehe mit ihr zusammen aus dem Zimmer und aus dem Haus. Es hat schon zu dämmern begonnen. Auf dem Universitätsgelände, das wir überqueren, bläst ein frischer Wind.

"Dein Brief hat mir sehr gefallen", sage ich zu ihr. "Du hast einen sehr erfrischenden Optimismus!"

Nach einem Moment fragt mich Beata: "Habe ich viele Fehler gemacht?"

"Nein, überhaupt nicht! Nur das Wort "erraroj" hast du mit einem Doppel-r geschrieben. Sonst war alles richtig, sogar alle Akkusative. Und ich habe festgestellt, dass du einen wunderschönen Stil hast. Dein Brief wirkte nicht so, als sei er von einer Anfängerin geschrieben worden, sondern von einer Schriftstellerin. Du hast sicher auch im Polnischen einen wunderschönen Stil!" Ich merke, wie Beata sich im Stillen über dieses Kompliment freut.

"Hier ist die Diskothek!", sagt Beata schließlich und erklärt mir: "Sie heißt Czerwony Pajak. Das bedeutet Rote Spinne ".

Wir gehen hinein. Drinnen bemerke ich, dass alles etwas anders ist als in den Diskotheken westlichen Stils. Die Musik ist langsam und die jungen Leute tanzen nicht allein, sondern zu zweit. Das freut mich um so mehr, da ich nicht überlegen muss, ob ich es wagen soll, irgendein Mädchen zum Tanz zu bitten, und wenn ja: welches... Neben mir steht Beata, die auf meine Frage: "Sollen wir tanzen?" sofort mit "Ja, gerne!" antwortet.

Ich nehme ihre Hände, genieße ihre Nähe und freue mich immer, wenn sie mit einem Lächeln zu mir aufblickt oder etwas sagt.

"Ich tanze gerne", erzählt sie.

"Ich auch. Leider kann ich nicht gut tanzen."

"Ich auch nicht."

Immer wieder spricht einer von uns den anderen an, und wir unterhalten uns ein wenig über unsere Familien, unser Studium, unsere Sprachkenntnisse, das Leben in der BRD und Polen, über die Länder, in denen wir schon waren...

"Im Frühling war ich in der DDR", erzählt Beata, während wir noch zusammen tanzen. "Dort hatte ich den Eindruck, dass die Deutschen es vorziehen, allein zu tanzen. Aber ich tanze lieber zu zweit."

"Ich tanze auch lieber zu zweit", sage ich. Und wir lächeln uns gegenseitig an.

Ich bemerke, dass Beata – obwohl sie erst seit weniger als einem halben Jahr Esperanto lernt – es inzwischen schon sehr gut und fast fehlerfrei spricht.

"Du hast im Esperanto-Lernen große Fortschritte gemacht."

"Nein, nur ein bisschen."

"Du sprichst sehr bewusst und überlegt. Du machst fast keine Fehler."

Nach einiger Zeit sagt Beata: "Ich bin müde. Sollen wir uns setzen?"

Gemeinsam gehen wir zum Tisch, um den herum einige Armsessel stehen. Wir setzen uns und unterhalten uns mit einem Polen und zwei Polinnen, die schon am Tisch saßen.

"Willst du etwas trinken?", fragt mich Beata.

"Ja, vielleicht ein Glas Limonade." Beata geht an die Theke und kommt mit zwei Gläsern Orangenlimonade zurück. Nur nach einiger Überredung willigt sie ein, dass ich wenigstens mein Glas bezahle. Wir ruhen uns ein wenig aus; ab und zu unterhalten wir uns ein bisschen mit den Polen an unserem Tisch. Aber am besten gefallen mir die Gespräche mit ihr. Sie zeigt auf die Wand, wo eine Riesenspinne in ihrem Netz gemalt ist. "Dort siehst du, warum man diese Diskothek Rote Spinne nennt.

Nachdem wir eine halbe Stunde gesessen sind, schauen wir einander an, und ich frage: "Sollen wir weiter tanzen?" – "Ja, gerne!"

Wieder genieße ich es, ihre Hände zu fassen – genau wie meine sind auch sie ein klein bisschen abgenutzt von der Arbeit – und freue mich, ihre Nähe und Wärme zu spüren. Ich bewege mich, zusammen mit ihr, im Rhythmus der langsamen Musik. Ich bemerke, dass einige Polen um uns ihre Partnerin nicht normal halten, sondern ihre Arme um ihre Schultern gelegt haben, um mehr unmittelbare Nähe, mehr Wärme zu spüren... Nach einigem Überlegen fasse ich den Mut, Beata ebenso zu halten und bemerke, dass sie es gerne zulässt. Ich genieße diese Umarmung... Doch wenn man so tanzt, ist es leider nicht mehr möglich, sich zu unterhalten. Ich kann ihr also nicht sagen, wieviel mir ihre Nähe bedeutet, wenn ich hierzu überhaupt den Mut aufbrächte. Nur in den kleinen Pausen zwischen den Liedern wäre es möglich, aber sie hat sicher schon selbst gespürt, wie glücklich ich bin...

"Ich möchte jetzt ins Bett gehen", sagt Beata, und ich antworte mit "Ich auch". Bei einem Blick auf meine Uhr stelle ich fest, dass es schon nach 1.00 Uhr ist. Bevor wir zum Ausgang gehen, geht sie noch zu einigen Polen, um sich von ihnen zu verabschieden. Ich bemerke, dass auch sie gerne gehen wollen, und, in der Tat, am Ende geht eine Gruppe von sechs Personen hinaus. An meiner Brust, meinem Bauch und meinem Becken bleibt das warme Gefühl ihres Körpers zurück, als ob wir noch tanzen würden. Ich bedauere ein wenig, dass ich jetzt nicht mit ihr allein bin. Sie unterhält sich nicht einmal mit mir, sondern mit den anderen – auf Polnisch. Aber wenn wir uns am Studentenheim nicht nur mit den Worten "Gute Nacht!" verabschieden, sondern auch mit einem schönen gegenseitigen Lächeln, bin ich wieder sehr glücklich.

Ich gehe ins Bett. Ich bin unruhig, trunken vor freudigen Gefühlen. Ein Strom von Gedanken und Fantasien durchläuft mein Gehirn und macht es mir unmöglich einzuschlafen. Ich liebe Beata, ich liebe sie über alles. Aber ich habe ihr nichts gesagt. Denn ich war einfach glücklich. Erst jetzt, da ich hier allein liege, fürchte ich, dass unsere Beziehung nur von kurzer Dauer sein könnte. Vielleicht wird nach meiner Rückkehr in die BRD alles wieder so sein wie vorher. Von Zeit zu Zeit wird sie mir noch schreiben – zuerst öfters, später immer seltener. Sie wird sich in einen Polen verlieben, ihn heiraten... Und ich werde allein bleiben, oder nur eine Frau finden, die man mit ihr nicht vergleichen kann. Ich muss ihr also sagen, dass ich sie liebe, dass ich sehnlichst eine ernsthafte Liebesbeziehung mit ihr wünsche, obwohl dies verrückt klingen mag aufgrund der Entfernung. Die Fantasien vom Sich-Verlieben nehmen Gestalt an...

 

* * *

 

Am kommenden Morgen begegne ich zufällig Beata auf dem Weg zum Speisesaal. Mein Herz klopft schnell.

"Hast du gut geschlafen?", fragt mich Beata.

"Ja, ausgezeichnet. Und du?"

"Auch sehr gut."

"Wir haben uns ja schon gestern viel unterhalten", sage ich nervös, "aber ich würde dich gerne noch näher kennenlernen."

Mit großer Freude stelle ich fest, dass Beata auf diesen Vorschlag mit einem Lächeln antwortet, das sogar wärmer und intimer ist als sonst.

"Ich will dich kennenlernen, weil ich dich sehr sympathisch finde."

"Ich finde dich auch sehr sympathisch", sagt sie und wir lächeln aufs Neue.

Schließlich erreichen wir den Speisesaal, wo wir zuerst unser Essen holen und dann einen Platz suchen.

"Sollen wir uns an einen Tisch etwas abseits setzen?", frage ich sie.

"Ja, gut!"

Wir setzen uns vis-à-vis. Bevor wir anfangen zu essen, lächeln wir uns lange an. "Es ist ein großes Vergnügen, dich anzuschauen", sage ich.

Das Frühstück schmeckt mir ausgezeichnet, obwohl die Brötchen ziemlich trocken sind.

"Willst du nachher in den Konversationskurs gehen oder zum Vortrag über Esperanto-Kultur?", frage ich Beata.

"Ich wollte in den Konversationskurs gehen."

Ich freue mich über das Wort "wollte", und formuliere meinen Satz ebenfalls in der Vergangenheit: "Und ich hatte vor, zum Vortrag über Esperanto-Kultur zu gehen."

Wir schweigen eine kurze Weile, ehe ich hinzufüge: "Aber ich will mich jetzt nicht von dir trennen."

"Ich will mich jetzt auch nicht von dir trennen. Wir können ja zusammen zum Vortrag über Esperanto-Kultur gehen", schlägt sie vor.

"Ja. Wir könnten auch auf mein Zimmer gehen, um uns weiter zu unterhalten. Ich denke, dass Roman und Andreas nun zum Konversationskurs gehen. Wir werden also allein sein..."

"Gut", sagt Beata. "Bist du schon fertig?"

"Ja", antworte ich. Wir stehen auf, geben unsere Tabletts zurück und gehen zusammen aus dem Speisesaal. Die Morgensonne scheint, hat aber noch nicht die Kraft, die Erde zu erwärmen. Eine Gruppe Nicht-Esperantisten geht an uns vorbei, ohne zu wissen, was für ein Glück uns beide verbindet. "Darf ich?", frage ich Beata und nehme ihre Hand, während wir neben einander hergehen. Lächelnd schaut sie zu mir hoch.

Wir kommen in meinem Zimmer an und stellen fest, dass wir wirklich allein sind. Beata setzt sich auf mein Bett, während ich einen Stuhl hole, um mich vor sie zu setzen.

"Das Programm hat schon vor einer viertel Stunde begonnen", sage ich, "bis Mittag wird uns keiner stören."

"Gut!", sagt Beata. Ihre großen braunen Augen sehen mich erwartungsvoll an.

"Beata... ich liebe dich!", sage ich und nehme ihre weichen Hände und streichle sie.

"Ich liebe dich auch... Es gibt nur ein Problem: die Entfernung."

"Auch ich denke selbstverständlich daran. Aber ich denke, dass wir uns bemühen könnten, uns möglichst oft auf Esperanto-Veranstaltungen zu treffen. Ich würde dich gerne in meine Stadt einladen oder könnte dich in Breslau besuchen oder bei deinen Eltern in Liegnitz."

"Ja, auch ich würde dich gerne einladen. Ich und meine Familie lieben es sehr, Gäste aufzunehmen. Aber ich denke, dass eine Liebe über eine so große Entfernung nicht lange bestehen kann."

"Vielleicht hast du Recht. Aber nichts ist unmöglich. Wir könnten eine gemeinsame und sicher glückliche Zukunft in der BRD verbringen."

"Es gibt ein großes Problem. In der BRD mag man die Polen nicht."

"Viele Probleme sind oft nur eingebildet. Ich zum Beispiel mag die Polen durchaus. Und nicht nur ich..."

Wir lachen. Aber eigentlich gefallen mir diese Sätze nicht.

"Der Mensch lebt nicht allein, sondern in einem konkreten sozialen Umfeld. Darum habe ich viele Ängste."

"Sei nicht traurig. Die Welt ist voller Freude. Wir nehmen sie nur nicht wahr."

Wir lachen wieder, diesmal allerdings melancholischer. Ich merke, dass ich ihre Probleme besser ernst nehmen sollte.

"In der BRD zu leben wäre für mich entwürdigend. Vor einem Jahr war ich in Ostberlin. Dort bemerkte ich, dass die Deutschen die Polen nicht mögen. Wegen der Auswanderung, aber auch weil sie denken, wir wären faul."

"Ja, ich verstehe dich. Du hast sicher nicht Unrecht. Auch ich habe schon viele Vorurteile von Deutschen über die Polen gehört. Sie seien arbeitsscheu, egoistisch, verlogen und sogar irgendwie hinterlistig... Ich weiß nicht genau, ich selbst habe ja diese Vorurteile nicht. Viele Menschen denken, Polen sei nicht nur wegen des politischen Systems arm. Und alte Deutsche versuchen oft, ihre Vorurteile durch ihre Erfahrungen mit Kriegsgefangenen zu rechtfertigen."

"Bist du also auch meiner Meinung?", fragt Beata.

"Teils ja. Ich stimme darin überein, dass viele Deutsche die Polen nicht mögen. Sie haben Vorurteile. Sie kritisieren verschiedene Eigenschaften der Polen. Doch was sie auch immer an den Polen kritisieren – keine dieser Eigenschaften hast du! Wahrscheinlich würden sogar viele Deutsche gar nicht merken, dass du Polin bist. Du sprichst ja ziemlich gut Deutsch, und vielleicht sogar einmal perfekt. Du könntest dich Beate nennen, Beate Brinkmann."

Beata lächelt. Ich kraule noch ihre Haare und beginne nun ihren Kopf und ihre Schultern zärtlich zu streicheln.

Ich fahre fort: "Es gibt auch viele Deutsche, die Polen mögen. Ich z.B. schätze ihre Freundlichkeit, ihre Gutherzigkeit, ihre Gastfreundschaft, ihre Kontaktbereitschaft. Oft hörte ich von Polen, z.B. auch gestern hier, Sätze wie 'Komm in unser Zimmer!' oder 'Setz dich zu uns!'. Polen singen gern, lächeln oft, überreichen kleine Geschenke... Bei uns im Westen ist das anders. Die Menschen sind verschlossener. Weil ich anscheinend nicht gesprächig bin, lassen sie mich lieber in Ruhe. Besonders während der Schulzeit habe ich viel darunter gelitten – ich hatte das Gefühl, unbeliebt zu sein und nicht genug Beachtung zu finden...

Leider kennen viele Menschen diese positiven Eigenschaften der Polen nicht. Meistens, weil sie überhaupt keine persönlichen Kontakte mit Polen haben; sie können sich ja gewöhnlich nicht einmal mit ihnen verständigen. Oder sie sind so kaltherzig, dass sie nicht fähig sind, diese Eigenschaften zu registrieren und zu schätzen.

Aber eine andere positive Eigenschaft der Polen ist bekannter: ihre Religiosität und ihr Glaube an Gott. Wahrscheinlich bist auch du religiös, oder?

"Ja, ich gehe jeden Sonntag in die Kirche."

"Ich denke, du hast alle positiven Eigenschaften der Polen und keine negativen. Wenn du in die BRD kommst, kannst du selbst dazu beitragen, dass das Bild der Deutschen über die Polen besser wird. Auch meine Eltern, zum Beispiel, haben die Polen nicht so gern. Mein Großvater hat ihnen immer vorgeworfen, dass sie aus Schlesien, der ehemaligen Kornkammer Deutschlands, ein Armenhaus gemacht haben. Aber ich bin ganz sicher, dass meine Eltern, wenn sie dich kennengelernt haben, ein sehr positives Bild von euch haben werden, genau so wie ich dich auf den ersten Blick sehr sympathisch fand, damals beim Treffen in Ostrava. Deine Freundlichkeit wird ihnen gefallen, die Wärme und die Lebensfreude, die du ausstrahlst. Auch deine Religiosität werden sie schätzen."

"Bist du auch ein religiöser Mensch?", fragt mich Beata.

"Ja. Ich hatte eine sehr religiöse Erziehung. Soll ich dir ein interessantes Erlebnis aus meiner Kindheit erzählen?"

"Ja, gerne."

"Als ich fünfeinhalb Jahre alt war, ging ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern durch die Stadt. Es war vor Weihnachten, und wir schauten zusammen die Schaufenster eines Spielwarengeschäftes an. Da sah ich ein sehr schönes, kleines Plüschtier: einen weißen Bären. Kurz vorher zeigte mir mein großer Bruder in einem Buch ein Bild von so einem Tier. Er erzählte, dass diese weißen Bären am Nordpol leben, wo es immer sehr kalt ist. Ihr dickes, warmes Fell schützt sie vor der Kälte. Und nun war da so ein Bär – nicht irgendein brauner mit nur zwei Beinen, wie ihn alle Kinder haben, sondern ein schöner weißer Bär mit vier Beinen, der genau so aussah wie der im Bilderbuch!

'Mama, den will ich haben!', sagte ich, obwohl ich nicht glaubte, dass dieser Wunsch sich erfüllen würde. Gewöhnlich wählt ja das Christkind die Geschenke selber aus.

'Das weiße Bärenjunge?'

'Ja, Mama, das will ich haben.'

'Vielleicht bringt es das Christkind. Wenn du immer schön brav bist, wird es deinen Wunsch erfüllen.'

Bald darauf war Heiligabend. 'Um 18.00 Uhr kommt das Christkind', sagte Mama. 'Du kannst mit Papa in die Stadt gehen; ich muss zu Hause bleiben.' Wir, die vier Jungen, gingen also mit Papa in die Stadt. Überall lag weißer Schnee. Es war kalt. Aber wir waren guter Laune. Was würden wir bekommen? Ungeduldig warteten wir auf den Augenblick, wo Mama rufen würde, dass das Christkind gekommen sei...

Wir kamen nach Hause und begegneten Mama. 'Ich gehe nachschauen, ob das Christkind schon da war. Ihr bleibt in der Küche!' Nach kurzer Zeit kam Mama zurück und rief freudig: 'Das Christkind ist gekommen!' Sofort rannten wir ins Wohnzimmer und suchten unser Geschenk. 'Das ist deines, Manfred!', sagte Mama und gab mir ein Päckchen, in dem ich etwas Weiches fühlte. Kleine Hände entfernten das Geschenkpapier, und große Kinderaugen staunten und strahlten vor Freude: Der weiße Bär! Mein weißer Bär! Nicht irgendein weißer Bär, sondern genau der aus dem Schaufenster! Ich erinnere mich genau, dass es exakt der gleiche war! Mein weißer Bär!

Am Christbaum strahlten die Kerzen; auf unseren Weihnachtstellern lagen Kekse, Nüsse, Mandarinen, Bonbons und Schokoladefiguren. Wir sangen zusammen das Weihnachtslied:

Oh du fröhliche, oh du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Welt ging verloren, Christ ist geboren. Freue dich, freue dich, oh Christenheit!

 

Ich streichelte das Fell meines Bären und war dem Christkind so dankbar, dem lieben Christkind. Aber es war nicht der Bär selbst, der mein Herz mit Freude und Verwunderung erfüllte. Wichtiger war die Tatsache, dass ein riesengroßer Wunsch Wirklichkeit geworden war. Wenn man nur etwas fest genug wünscht, das Christkind hört es und erfüllt die Bitte. Ich fühlte mich wohl in dieser Welt, glücklich, geliebt vom großen Geheimnis, das uns umgibt...

Nicht ganz ein Jahr später machte mir Mama eine grausame Mitteilung: 'Manfred, du gehst jetzt schon zur Schule. Es ist also Zeit, dass du etwas erfährst: Bis jetzt hast du geglaubt, dass das Christkind die Weihnachtsgeschenke bringt. Aber das stimmt nicht. Das machen wir, deine Eltern.'

'Das glaube ich nicht!', rief ich.

'Aber es ist wahr. Und den Osterhasen gibt es auch nicht. Die Eier und die Nester verstecken auch wir. Und der Nikolaus bringt nicht die Teller mit den Süßigkeiten. Auch das machen wir.'

'Das glaube ich nicht, Mama!'

'Aber es ist trotzdem wahr. Sei nicht traurig, du bekommst ja weiterhin die Geschenke. Ich bitte dich nur, dass du das nicht weitersagst an Martin und Dirk; es ist ja so schön, wenn Kinder noch daran glauben.'

Ich war dennoch traurig. Für mich war nicht wichtig, ob ich weiterhin die Geschenke bekomme. Mein ganzes Weltbild hatte sie zerstört. Alles war Lug und Trug!

Abends kam Mama wie immer auf unser Zimmer und las uns ein Gebet aus einem kleinen grünen Buch vor. ‘Mama‘, fragte ich, ‘gibt es den lieben Gott?‘

‘Ja, den lieben Gott gibt es. Wir können ihn nur nicht sehen. Aber er sieht alles.‘

Ich glaubte Mama nicht recht. Ich hatte Beweise, dass es das Christkind gibt, den Osterhasen, den Nikolaus. Doch gibt es sie nicht wirklich, wenigstens kommen sie nicht zu uns. Aber Gott gibt es, obwohl ich keine Beweise von seiner Existenz habe?! Mama ist nicht ehrlich. Man kann ihr nicht vertrauen und auch nicht den anderen Erwachsenen. Ich muss selbst herausfinden, was Wahrheit und was Lüge ist...

Ich ging weiterhin jeden Sonntag zur Kirche, weil ich musste. Aber ich konnte nicht wirklich an Gott glauben. Auf den Kirchenbänken langweilte ich mich, und ich nutzte die Zeit zum Nachdenken. Daheim im Bett setzte ich meine Meditationen fort: Kann es sein, dass die Erwachsenen den Sinn des Lebens kennen? Wahrscheinlich wollen sie ihn mir nur nicht verraten. Oder vielleicht kennt nur irgendein höheres Wesen diesen Sinn. Es kann sein, dass alle anderen Wesen nur inspirierte Materie sind, die dieses hohe Wesen leitet. Oder sind sie sich der Rolle bewusst, die sie spielen? Vielleicht existiert die ganze Welt nur für mich, der ich Erfahrungen sammeln muss für das Leben in einer anderen, zukünftigen Welt...

Ich dachte viel über solche Fragen nach. Zeiten, in denen ich alles anzweifelte, wechselten sich ab mit Zeiten, in denen ich mich als Christ fühlte. Manchmal konnte ich gottergeben und sehr fromm sein wie Mama. Später, in meiner Pubertät, verstärkten sich die Zweifel. Ich interessierte mich für alles, was sich um den Sinn des Lebens drehte. Ich las über Existentialismus, Materialismus, Positivismus u.s.w."

"Und jetzt?", fragt Beata.

"Nach und nach beginne ich, wieder an Gott zu glauben. Von Zeit zu Zeit gehe ich in die Kirche, vielleicht alle zwei oder drei Wochen. Aber es scheint, dass ich jetzt, hier, den wahren Glauben, das wahre Vertrauen in Gott wieder gefunden habe. Stell dir vor, vor sechs Wochen sah ich ein Mädchen, das ich auf den ersten Blick sehr gern hatte. Ich wünschte sehnlichst, sie als Freundin zu haben. Und nun scheint es, als ob dieser überaus große Wunsch in Erfüllung gegangen ist, wie wenn ein höheres Wesen mein inniges Bitten erhört hätte. Ich fühle mich glücklich, geliebt vom großen Geheimnis, das uns umgibt..."

"Aber es gibt da ein Problem..."

"Ich weiß. Aber ich bin der Meinung, dass wir wunderbar zusammenpassen, so gut, dass alle Probleme unwichtig sind. Du kannst dir nicht vorstellen, wieviel du für mich bedeutest. Niemals habe ich eine Frau so sehr geliebt wie jetzt dich. Du wärst meine erste Freundin."

"Ja, wirklich? Du bist doch schon 22..."

"Ich habe niemals wahre Zärtlichkeit erfahren. Das war schmerzlich für mich, nicht nur, weil ich weiß, dass Liebe ein Vergnügen darstellt, das ich nicht hatte – bedeutender war das Gefühl, weniger liebenswert als andere Jungen, weniger wert als sie zu sein..."

Beata überlegt. "Ich liebe dich", sagt sie plötzlich, "ich liebe dich wirklich sehr..."

Ich fasse wieder ihre Hände, betaste und streichle sie, während das wärmste und intimste Lächeln, das ich je erfahren habe, mein Herz erwärmt. Wir stehen auf; ich umarme sie, wir liebkosen und küssen uns...

Nach einiger Zeit fragt mich Beata ganz traurig: "Kannst du wirklich nur bis Donnerstag bleiben?"

"Ja, du weißt doch, dass ich ab Freitag einen Wochenendkurs an der Volkshochschule geben muss."

"Du engagierst dich sehr stark für Esperanto, nicht wahr?"

"Ja. Weil ich hoffe, dass diese internationale Verständigung auf hohem Niveau, wie wir zwei sie nun erleben, einmal eine selbstverständliche Sache für die ganze Menschheit werden wird..."

* * *

 

Und so enden meine Fantasien in der ersten Nacht in Torun. Um 8.00 Uhr morgens stelle ich fest, dass ich in dieser Nacht überhaupt nicht geschlafen habe. Schon öfters konnte ich nicht einschlafen, weil ich nervös war, aber um 4.00 Uhr oder 5.00 Uhr bin ich dann doch eingeschlafen. Aber heute lag ich während der ganzen Nacht schlaflos im Bett, unruhig und in Hoffnungen schwelgend, in Gedanken an Beata. Meine Fantasien nahmen ein Ende, und ich bin mir bewusst: Die Wirklichkeit pflegt gewöhnlich weniger erfreulich zu sein.

Ich stehe auf, wasche mich, ziehe mich an und gehe in den Speisesaal. Dort angekommen, erblicke ich sofort Beata. Aber leider sitzt sie, zusammen mit drei Polen, an einem kleinen Tisch. Und für mich ist kein Platz mehr. Wir lächeln uns kurz zu, dann schaue ich mich nach einem freien Platz um. Ich ziehe ja einen Platz bei Menschen vor, mit denen ich mich gut unterhalten kann...

Während ich noch zögere, schauen mich zwei Polen an und einer sagt: "Setz dich zu uns!" Ich nehme Platz und freue mich über die Freundlichkeit und Kontaktfreudigkeit der Polen. Aber nach und nach verschwindet diese Freude, denn sie unterhalten sich weiterhin lebhaft auf Polnisch, als ob ich gar nicht da wäre. Und nach kurzer Zeit gehen sie weg, denn sie waren mit dem Essen fertig. Sie lassen mich alleine sitzen, vis-à-vis zur Wand, so dass ich nicht einmal mehr Beata sehen kann, ohne mich umzudrehen...

Die Brötchen schmecken alt und trocken; ich esse langsam. Als ich mit dem Frühstück fertig bin, sehe ich, dass Beata nicht mehr im Speisesaal ist. Wahrscheinlich ist sie schon zum Konversationskurs gegangen. Ich beschließe, trotzdem nicht dorthin zu gehen, sondern zum Vortrag über Esperanto-Kultur, denn ich spreche ja schon fließend Esperanto.

Um die Mittagszeit gehe ich zum Speisesaal und sehe Beata mir entgegenkommen. Wieder ist sie mit ein paar Polen zusammen, so dass wir nur kurz "Hallo!" sagen. Vielleicht werde ich nie mehr eine Gelegenheit finden, um ihr das zu sagen, was ich will, was ich ihr sagen muss...

Nach dem Mittagessen entscheide ich mich, die Mittagspause zu nutzen, um Beata einen Brief zu schreiben. Es bleiben fast zwei Stunden, bis wir nachmittags um 15.00 Uhr in die Stadt fahren, um das Rathaus und das Haus von Kopernikus zu besichtigen. Ich fühle immer noch ihre unmittelbare Nähe von gestern, als wir miteinander tanzten. Ich gehe in mein Zimmer und beginne zu schreiben:

 

Liebe Beata,

Du hast sicher bemerkt, dass ich hier in Torun glücklich bin. Sogar sehr glücklich. Ich habe genügend freundschaftliche Kontakte; ich bin etwas nervös, aber voll freudiger Gedanken und Fantasien...

 

Etwas mehr als eine Stunde später habe ich einen vierseitigen Entwurf vor mir, mit dem ich fast zufrieden bin. Es bleibt noch eine halbe Stunde bis 15.00 Uhr. Das könnte reichen, um den endgültigen Brief zu schreiben... Unterdessen fühle ich mich schon ein bisschen unwohl. Ich fange an:

 

Liebe Beata,

Du hast sicher bemerkt, dass ich mich hier relativ glücklich fühle. Ich habe genügend freundschaftliche Kontakte...

Von Zeit zu Zeit halte ich bei jedem Satz an und überlege, ob ich ihn ändern soll. Deswegen muß ich um 15.00 Uhr feststellen, dass der Brief erst halb fertig ist. Ich gehe zusammen mit den anderen zur Bushaltestelle; wir steigen in den Bus, und kurz darauf kommen wir im Stadtzentrum an. Ich sehe Beata oft, aber ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll... Ich lernte niemals richtig, mit anderen Menschen umzugehen, denn ich war fast immer allein. Leider ist Beata meistens mit anderen Polen zusammen und ich weiß überhaupt nicht, wie ich sie dann ansprechen soll...

Am Abend komme ich etwas trauriger nach Hause. Ich lese auf einem Anschlag, dass das Abendprogramm aus zwei Videofilmen besteht: Um 20.00 Uhr wird der Film "Esperanto" gezeigt und um 22.00 Uhr "Mephisto". Weil ich den ersten Film schon in Deutschland gesehen habe, entscheide ich mich für den zweiten und nutze die Zeit bis dahin, um meinen Brief an Beata fertig zu schreiben. Ich lese die schon geschriebenen zwei Seiten noch einmal durch und stelle fest, dass der Anfang nicht mehr stimmt. Ich fühle Beata nicht mehr vor meiner Brust, und es geht mir nicht mehr so gut... Ich schreibe den ganzen Brief noch einmal:

 

Liebe Beata,

Du hast sicher bemerkt, dass es mir hier in Torun relativ gut geht. Ich habe genügend freundschaftliche Kontakte; ich bin etwas nervös, aber voll freudiger Gedanken und Fantasien. Aber über mir schwebt, gewissermaßen als Damoklesschwert, das Bewusstsein, dass mich schon bald nach meiner Rückkehr nach Deutschland aufs Neue das unangenehme Gefühl der Einsamkeit quälen wird.

Vielleicht ist das unvermeidlich. Trotzdem keimte unter allen Ängsten und Hoffnungen irgendwo in mir der Wunsch, Dir alles über mich mitzuteilen, was interessant oder wichtig für Dich sein könnte. Ich will Dir erzählen, wie ich über Dich denke und unsere Korrespondenz schon hier fortsetzen, damit Du schon jetzt sofort auf meine Gedanken reagieren kannst – wie auch immer Du willst.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich Dir am ersten Abend des Treffens in Ostrava begegnete. Mit Vergnügen und Faszination habe ich erlebt, mit welcher Wärme Du mich begrüßt hast: Es wurde sofort klar, dass es sich nicht nur um eine äußerliche Höflichkeit handelte, sondern um eine Freundlichkeit, die tief aus Deinem Herzen kommt.

Nach meiner Rückkehr schrieb ich Dir einen Brief. Es ist mir nicht leicht gefallen, ihn zu schreiben, denn bis dahin hatten wir uns noch nicht viel unterhalten. Ich wollte mit diesem Brief eigentlich nur eines sagen: dass ich Dich sehr sympathisch finde und Dich gerne näher kennenlernen wollte. Aber vorsichtig verbarg ich dies hinter der allgemeinen Feststellung, dass mein stilles Wesen mich "manchmal hindert, Menschen wirklich kennenzulernen, die ich sympathisch finde." Gleichzeitig wollte ich Deine Verständnisbereitschaft testen, indem ich über ein altes Problem von mir schrieb. Deine sehr freundliche und erstaunlich schnelle Antwort zeigte mir, dass Du diesen Test bestanden hast. Ich lobte schon den ermutigenden Optimismus, der aus Deinem Brief strahlt (und nicht nur aus ihm!).

Gestern abend haben wir uns näher kennengelernt. Da hat mich die Ähnlichkeit zwischen unseren Interessen und Ansichten sehr verblüfft. In mir wuchs die Überzeugung, dass wir gut zusammenpassen.

Als ich dies geschrieben hatte, bekam ich Lust, Dir etwas über mich zu schreiben. Du hast mit Recht festgestellt, dass ich ein etwas schüchterner Mensch bin. Ich habe mich schon viel mit den Ursachen beschäftigt und sie besonders in meiner Kindheit gesucht.

Damals führten unüberlegte Aussagen oder Handlungen meinerseits oft zu Wutausbrüchen meines Vaters, der nicht selten die Beherrschung verlor. Er schimpfte und schlug mich, und meine kindliche Seele versuchte, solchen Quälereien aus dem Weg zu gehen, indem ich derartige Provokationen unterließ. Ich verlor den Mut.

Zum Glück durchschaue ich alles ziemlich klar, so dass ich nicht die Verhaltensweisen meines Vaters übernehmen muss. Im Gegenteil, ich verabscheute nach und nach jegliche psychische und physische Gewalt und sah mehr und mehr, dass es mir sogar ziemlich gut gelang, alles Derartige zu vermeiden. Ich begriff, dass Konflikte oft am besten durch Freundlichkeit zu lösen sind, und fing an, nach dieser Überzeugung zu handeln.

Dennoch wurde mein Leben nicht wirklich glücklich. Vielleicht weil ich mich mehr bemühte, überlegt zu handeln als mutig zu werden, habe ich unter Einsamkeit und dem unerfüllten Verlangen nach der Liebe einer Frau gelitten.

Und nun bist Du in mein Leben getreten. Schon jetzt hast Du mein oft trauriges und leeres Herz mit Freude und Optimismus erfüllt, und je fester die Beziehung zwischen uns sein wird, desto stärker wird Dein positiver Einfluss. Und ich hoffe, dass umgekehrt auch ich zu Deinem Glück beitragen kann. Hier will ich endlich an Dich die Frage richten, die Dir vielleicht verrückt erscheinen mag: Könntest Du Dir vorstellen, Dich in mich zu verlieben?

Selbstverständlich habe ich schon viel über diese Frage nachgedacht, und wahrscheinlich ist das Haupthindernis die große Entfernung zwischen der BRD und Polen. Aber von meinem Standpunkt aus ist alles möglich... Wir könnten uns bemühen, möglichst oft gemeinsam an internationalen Esperanto-Veranstaltungen teilzunehmen, könnten einander besuchen, und aus meiner Sicht wäre sogar eine gemeinsame (und sicher glückliche!) Zukunft in Deutschland möglich...

Wenn Du gerne Deine Gedanken über den endlich einigermaßen klar formulierten Hauptinhalt dieses Briefes zum Ausdruck bringen möchtest, sollst Du wissen, dass ich in jedem Fall Deine Reaktion voll und ganz respektieren werde.

Mit freundschaftlichen Grüßen

Dein Manfred

 

Ich schreibe den Brief fertig und bemerke, dass es noch zu früh ist, um zum zweiten Film zu gehen. Ich stecke den Brief in meine Tasche und gehe zum Saal im Nebengebäude. Mit Freude sehe ich dort auch Beata. Ich setze mich zwei Reihen hinter sie.

Nach dem Ende des Films sehe ich, dass Beata sich von einigen Polen verabschiedet und zum Ausgang geht, obwohl noch ein weiterer, kürzerer Film über die Stadt Bialystok angekündigt ist. Ich stehe ebenfalls auf und gehe zu ihr. Wie gewöhnlich lächeln wir uns zu.

"Gehst du schon schlafen?", frage ich sie.

"Ja. Ich bin müde."

"Ich will jetzt auch schlafen gehen", sage ich und wir gehen zusammen hinaus. Ich freue mich, mit ihr zusammen zu sein. Zusammen gehen wir durch die Nacht, unterm sternklaren Himmel. Ich überlege, ob ich die Gelegenheit wahrnehmen soll, ihr meine Sympathie auszudrücken oder ob ich das wie geplant mit meinem Brief tun soll. Ich entscheide mich für die zweite Möglichkeit und frage sie nur etwas Oberflächliches: "Hast du beide Filme gesehen?"

"Ja. Und du?"

"Ich habe nur den zweiten gesehen. Den Film 'Esperanto' habe ich schon auf einem Treffen in der BRD gesehen. Er ist aber auch interessant."

Und ich habe den Mut hinzuzufügen: "Während du diesen Film angeschaut hast, habe ich etwas für dich geschrieben."

Ich hole den Brief aus meiner Tasche und gebe ihn ihr: "Der ist für dich!"

"Was ist das?", fragt sie nervös.

"Es ist ein Brief mit ein paar offenen Gedanken."

"Aha. Schreiben ist leichter", sagt sie, und ich freue mich, dass sie mich verstanden hat. "Auch ich habe ein Geschenk für dich", fügt sie hinzu, und überreicht mir zwei Ansichtskarten von ihrer Heimatstadt Liegnitz.

"Danke... und gute Nacht!"

"Gute Nacht!"

 

* * *

 

Am kommenden Morgen erwarte ich ungeduldig das Wiedersehen mit Beata. Und tatsächlich... ich treffe sie schon auf dem Weg zum Speisesaal. Ihr Blick ist freundlich, aber es fehlt das gegenseitige Lächeln, das bis jetzt immer entstanden ist, wenn wir einander erblickten.

"Ich habe deinen Brief gelesen. Du bist kein schüchterner Mensch!"

Wir lächeln ein wenig. Nach einer kleinen Pause fügt sie hinzu: "Es wäre gut möglich, wenn da nicht ein Problem wäre: Ich habe schon einen Freund. Er heißt Christoph... "

Ich brauche etwas Zeit, um das Gesagte zu verdauen. Ich höre Beata aufmerksam zu: "Aber du hast Recht, auch ich finde, dass wir gut zusammenpassen aufgrund unserer ähnlichen Einstellungen. Ich will, dass wir Freunde bleiben, Freunde im weiteren Sinne. Wenn ich Probleme habe, schreibe ich dir, wenn du Probleme hast, schreibst du mir... "

Und sie fügt noch hinzu: "Übrigens, ich habe den Eindruck, dass du mich ein bisschen idealisierst. Ich bin nur eine ganz gewöhnliche Frau."

Ich überlege und antworte schließlich traurig: "Für mich wirst du niemals nur eine gewöhnliche Frau sein!"

 

* * *

 

Vier Tage später fahre ich nach Hause. In Posen steige ich um. Nach dem Einstieg in den Ost-West-Express muss ich wieder im Gang stehen – dieses Mal nicht, weil ich es nicht für nötig befunden hätte, eine Platzkarte zu kaufen, sondern weil diese ausgegangen waren und erst wieder in vier Wochen erhältlich sind. Obwohl wir jetzt weniger dicht gedrängt stehen als auf der Hinfahrt, fühle ich mich nicht besser – im Gegenteil, melancholisch erinnere ich mich, dass genau das eingetreten ist, was ich befürchtet hatte. Das Glücksgefühl, das ich am ersten Abend beim Tanzen mit Beata hatte, ist verschwunden; alles scheint mir wie ein schöner Traum. Wann werde ich wieder nach Polen kommen? Eine ähnliche Veranstaltung wird wahrscheinlich erst wieder im kommenden Sommer stattfinden.

Es tröstet mich ein wenig die Tatsache, dass ich mich auch für die vierte einwöchige Jugend-Esperanto-Veranstaltung angemeldet habe, das deutsch-französische Jugendtreffen in Mainz. Aber meine Hoffnungen sind nicht groß. Die Schaffnerin kommt. "Platzkarte?", fragt sie. "Nie ma!", antworte ich, indem ich mich an den polnischen Ausdruck erinnere, mit dem die Frau im Reisebüro mir und Iwona, die mir dort geholfen hat, ständig klar machen wollte, dass die Platzkarten ausgegangen seien. "Fünf Mark", sagt die Schaffnerin, und ich zahle ihr gern diese kleine Geldstrafe, obwohl ich mich nicht schuldig fühle. An der Grenze zwischen Polen und der DDR kann die Kontrolle diesmal im Zug stattfinden. Ein DDR-Zöllner kommt herein und spricht einen Polen, der neben mir steht, barsch an: "Geh weg!" Leider kann ich ihm das nicht ins Polnische übersetzen. Der Zöllner muß ihn lauter anschreien: "Geh weg, damit ich durchgehen kann!"

"Nicht nur wir Westdeutsche haben unsere Türken..."

 

Zum Glück steigen in Berlin mehrere Menschen aus, und ich finde einen Sitzplatz, auf dem ich die Nacht verbringen kann. Am Morgen komme ich zu Hause an, und ich bereite mich für den Wochenend-Esperanto-Kurs vor. Am Sonntagabend, nach dem Ende dieses Kurses, fange ich an, Gedanken zu notieren für einen Brief an Beata, denn ihre letzten Worte bei unserem Abschied in Torun waren: "Schreibe mir!" Aber ich stelle fest, dass ich ihr schon weniger zu schreiben habe als auf dem Treffen. Vielleicht kann sie mit einer besonders freundlichen und inhaltsreichen Antwort unsere Korrespondenz sogar interessanter gestalten als vorher. Aber ich fürchte, dass sie es nicht kann. Im kommenden Sommer werde ich sie wiedersehen... Doch wahrscheinlich wird unsere Freundschaft nach und nach erkalten.

 

Zum Glück beginnt übermorgen schon das Treffen in Mainz...


V

 

"Ich liebe kleine Esperanto-Veranstaltungen, an denen wenigstens eine Person teilnimmt, die ich sehr sympathisch finde." Am zweiten Abend des Treffens in Mainz erinnere ich mich an diesen Satz. Es ist Diskoabend. Die Musik hat noch nicht angefangen. Die Teilnehmer stehen oder sitzen im Saal; einige unterhalten sich. Ich stehe irgendwo und schaue umher, ob es hier eine solche "sehr sympathische" Person gibt. Monique geht an mir vorbei. Ich lächle ihr zu. "Hallo!", sagt sie freundlich und geht weiter. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Treffen in Kiew mit vier oder fünf Sowjetrussen zusammensaß. Wir haben gesungen, und einige klatschten mit den Händen. "Lasst das!", sagte dann Natascha, "Es ist schöner, das Lied ohne Klatschen zu genießen". Vielleicht gilt auch etwas Ähnliches fürs Lächeln...

Ich sehe, dass Katharina allein sitzt. Ich lächle auch sie an. Sie sieht mich, aber reagiert nicht. Ich überlege, ob ich mich neben sie setzen soll. Schließlich kommt Brigitte zu mir. Sie spricht mich an: "Weißt du, wann die Disko anfängt?"

"Laut Programm um 21.00 Uhr. Aber meistens wird es etwas später."

"Studierst du auch?"

"Ja, Mathematik, seit drei Jahren. Und du?"

"Ich studiere Archäologie in Lyon."

Und sie fängt an, über dieses Studienfach zu erzählen. Ich höre nicht gut zu, sondern schaue sie an. Ihre Augen, ihr Mund, ihre Nase, ihr ganzes Gesicht – alles sieht schön aus. Ich lächle ein wenig. Sie spricht weiter; sie merkt nichts. Von Zeit zu Zeit sage ich Ja, ohne ihr wirklich zuzuhören. Ich lächle wieder ein wenig. Keine Reaktion. Ihr Gesicht bleibt irgendwie unbeweglich, obwohl sie noch spricht. Sie hat den Reiz eines Fisches, denke ich. Es ist schön, sie anzusehen, aber...

Die Musik beginnt. Ich fange an zu tanzen. Allein. "Wir Polen tanzen lieber zu zweit", sagte Beata. Aber erstens sind hier keine Polen (außer Robert, der schon lange in der BRD lebt), und zweitens sind wir hier zwanzig Jungen und nicht einmal zehn Mädchen. Ich sehe Ute vor mir tanzen. Ich schaue sie an, lächle. Sie schaut verwundert zurück. Ich sehe Annegret tanzen. Ihr Gesicht sieht aus, als würde sie ein Lächeln gern erwidern. Ich lächle ihr zu. Und wirklich, es bewegt sich etwas in ihrem Gesicht... aber: sie schneidet eine Grimasse, als wolle sie einen Angriff von mir abwehren.

Ich suche weiter, fange Gesichter ein. Ich fühle mich aufdringlich. Abschätzig schaue ich zu Brigitte, der Fischin. Ich liebe sie alle nicht wirklich. Nach fast einer Stunde Tanzen werde ich müde. Vielleicht mehr wegen des Denkens als wegen des Tanzens. Ich setze mich. Allein. Warum nicht zu den anderen? Ich habe keine Lust, mich mit ihnen zu unterhalten. Warum nicht? Vielleicht, weil meine Neigung zu Kommunikation nur darauf zielt, meine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen? Kann nur die Hoffnung, mich zu verlieben, in mir die Lust wecken, jemanden anzusprechen? Ich sitze noch eine Weile allein, bis ich endlich beschließe, ins Bett zu gehen.

 

* * *

 

Am kommenden Tag fühle ich mich wieder irgendwie unwohl. Beim Abendessen überlege ich, wo ich mich setzen soll. Schließlich beschließe ich, mich gegenüber von Ute zu setzen. Sie unterhält sich mit Derk, einem Holländer, der neben ihr sitzt. Auch die anderen Teilnehmer an meinem Tisch unterhalten sich; ich höre ein wenig unauffällig mit. Ute und Derk schweigen für einen Augenblick, bis Ute mich plötzlich anspricht: "Hältst du dein Schweigen aus?", fragt sie mich freundlich, nicht vorwurfsvoll.

"Ja." Und nach einem Moment füge ich hinzu: "Ich habe mich daran gewöhnt." Doch gleich kommen mir Bedenken. Was für eine dumme Bemerkung! Ich hätte etwas anderes sagen sollen:

"Manchmal halte ich mein Schweigen aus – dann nämlich, wenn in mir genügend Gedanken und Fantasien sind, die ich gerne in Ruhe entwickeln möchte. Leider ist dieser Zustand sehr selten. Gewöhnlich ist Schweigen für mich etwas Schmerzliches, denn es quält mich dann ein bedrückendes Gefühl der Einsamkeit... "

Aber mein Mund bleibt verschlossen. Traurig stelle ich fest, dass es zu spät ist für diese Bemerkung. Ute spricht schon weiter mit Derk über ganz andere Sachen. ..

Nach dem Abendessen bleibt etwas Freizeit. Die Nachtwanderung wird erst um 21.00 Uhr beginnen... Am Tisch sitzt eine Gruppe junger Deutscher, Franzosen und Holländer. Ich setze mich zu ihnen. Sie unterhalten sich über Politik. Ich sehe Katharina unter ihnen. Uwe kommt und beginnt, ihre Schultern zu streicheln. Von hinten. Katharina schaut sich kurz nach ihm um und lässt es einfach zu. "Es ist keine echte Liebe zwischen ihnen", denke ich. "So ein Verhältnis könnte ich auch haben." Traurig stelle ich fest, dass ich sie trotzdem beneide.

Ich höre der Diskussion zu. Sie unterhalten sich über die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Sie diskutieren wenigstens in Esperanto. Aber irgendetwas gefällt mir nicht. Sie bemerken mich gar nicht. Ich hasse mein Schweigen und denke: "Sie unterhalten sich nicht, um sich gegenseitig besser zu verstehen, sondern um einander von ihrer eigenen Meinung zu überzeugen."

"Kommt zur Eingangshalle!", ruft einer von den Organisatoren. Wir versammeln uns zur Nachtwanderung. Ich stehe unter den anderen Teilnehmern, ohne mich mit ihnen zu unterhalten. Irgendeine magische, heimtückische Kraft zwingt mich aufs Neue, Gesichter zu suchen, um sie anzuschauen, sie anzulächeln. Ich erblicke Annegret, lächle sie an. Und wieder schneidet sie eine Grimasse... Ich erblicke Petra, lächle auch sie an. "Warum lachst du?", fragt sie mich plötzlich. Ich schweige.

Wir gehen hinaus. Es wurde schon dunkel. Wir gehen zur Schlossruine. Zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Ich befürchte etwas. Es entstehen kleine Gruppen. Ein paar Zweiergruppen, ein paar größere Gruppen. Ich bemühe mich, bei den größeren zu bleiben, und höre unauffällig ihren Gesprächen zu. Wir gehen durch einen Wald. Der Weg steigt an, und wir erreichen schließlich die Schlossruine. Dort machen wir eine kleine Pause. Einige klettern auf die Mauern.

Wir gehen zurück. "Es ist sehr leicht: Geht immer geradeaus, bis ihr auf die Hauptstraße kommt; dort müsst ihr nach rechts gehen", sagt einer von den Organisatoren. Unterwegs bilden sich wieder kleine Gruppen; einige gehen weniger schnell als die anderen. Ich bemühe mich wieder, bei einer größeren Gruppe zu bleiben. Aber diese Gruppe zerfällt immer mehr. Schließlich sind wir noch zu fünft. "Fünf ist eine schlechte Zahl, weil sie ungerade ist", denke ich. Und tatsächlich, nun gehen auch Uwe und Katharina schneller; sie trennen sich von uns. Ich entscheide mich, bei den anderen beiden zu bleiben, bei Reinhard und Anne, denn wahrscheinlich ziehen Uwe und Katharina es vor, zu zweit zu bleiben. Ich würde sie nur stören. Der Abhang ist zu Ende. Der Weg wird eben. Reinhard und Anne unterhalten sich. Ich nicht. Ich fühle mich schon in einem Zustand, in dem ich nicht einmal etwas sagen könnte, selbst wenn ich etwas Interessantes zu erzählen hätte. Wahrscheinlich würden sie es nicht merken, wenn ich nicht mehr mit ihnen zusammen gehe. Oder sogar sich darüber freuen, denn sie wären sicher auch lieber unter sich. Ich gehe langsamer. Und tatsächlich, sie schauen nicht zurück. Sie merken nicht, dass ich nicht mehr mit ihnen zusammen gehe. Oder sie denken einfach, dass ich warte, um mit einer anderen Gruppe zu gehen. Aber hinter mir ist niemand. Ich gehe allein durch den Wald, fühle mich einsam, unbeliebt, unfähig, mich mitzuteilen. Melancholisch denke ich an das Treffen in Polen. Dort gab es Kontaktbereitschaft; dort war es möglich zu lächeln, ohne sich aufdringlich zu fühlen. Ich erinnere mich an den Satz von Beata: "Die Welt ist voller Freude, wir nehmen sie nur nicht wahr." Aber ich sehe keine Freude... Um mich herum nur Dunkelheit, Leere und Schweigen, außer dem Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume. Ich sehe eine Wegkreuzung und gehe nach links. Keiner merkt, dass ich fehle. Nach einer Weile sehe ich eine Bank und setze mich. Ich fühle die erfrischende Wirkung der Tränen, die über meine Wangen laufen, und starre in die Dunkelheit, ein wenig als blickte ich empor: "Siehe Papa, das ist der Mann, den du gewünscht hast..."


ENDE